Sie war gern Hallenwartin in der Kreuztaler Stählerwiese: Petra von Amen erzählt, wie sie Gesundheit und Arbeitsplatz verloren hat.

Sie war schon lange nicht mehr hier. Petra van Amen erinnert sich, als sie an der Dreifachhalle im Kreuztaler Schul- und Sportzentrum entlang geht. An Kinder und Jugendliche aus den Schulen, an Lehrerinnen und Lehrer. An die Leichtathleten der LG Kindelsberg. Und vor allem natürlich an Ferndorfs Erste, die Handballer in der Bundesliga, für die sie als Hallenwartin gern mal einen Sonntag mehr Dienst gemacht hat: auf die Lüftung achten, die Umkleiden in Ordnung halten, die Notausgänge im Blick haben, abends die Tür entriegeln, wenn die Sportler und ihre Fans im „Aquarium“, dem Glaskasten vor dem Foyer, noch weiterfeiern. „Das Wichtigste ist, dass die Spieler zufrieden sind und sie sich gut aufgehoben fühlen und der Betrieb rund läuft.“

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Petra van Amen geht es nicht gut. Die 58-Jährige ist krank, und sie hat lange gebraucht, um die Geschichte fassbar zu machen, die jetzt in einem blauen Aktenordner vor ihr liegt: die Geschichte einer Berufslaufbahn bei der Stadt Kreuztal, die mit dem Absturz in die Erwerbsunfähigkeit endet. Obenauf liegt der Arbeitsvertrag, den sie am 12. November 1990 unterschrieben hat. Und ganz unten der Aufhebungsvertrag vom 12. April 2021, mit dem eigentlich eine Leidenszeit abgeschlossen sein soll. Aber nicht ist.

Wie ein ganz normales Berufsleben zerbricht

Hier folgt ihre Geschichte. So, wie sie sie selbst wahrnimmt. Es geht nicht darum zu entscheiden, wer Recht hat und wer woran schuld ist. Sondern um die Darstellung, wie ein ganz normales Berufsleben zerbricht. Wie ein Zusammenbruch sich schleichend ankündigt, ganz ohne große, aber mit vielen kleinen Katastrophen. Die Stadt Kreuztal selbst äußert sich zu dem Geschehen nicht.

Im Kreuztaler Schul- und Sportzentrum: Petra van Amen war Hallenwartin.
Im Kreuztaler Schul- und Sportzentrum: Petra van Amen war Hallenwartin. © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Aufgewachsen ist Petra van Amen in Oberasdorf bei Niederfischbach, mit 14 zog sie mit der Familie nach Fellinghausen. Hauptschule, Berufsfachschule für Technik, die Ausbildung zur Tischlerin, das Stellenangebot im Kreuztaler Bauhof, zuerst als Elternzeitvertretung für ein Jahr, dann unbefristet. Am Anfang gehörten Winterdienst und Friedhofsarbeiten zu ihren Tätigkeiten, später war sie die Frau für die Kinderspielplätze. Dreslers Park kam in dieser Zeit in die städtische Regie, bis nach der Eröffnung war sie auch Hausmeisterin in der Gelben und in der Weißen Villa, bevor sie ganz ins Team der Hallenwarte in der Stählerwiese wechselte. „Ich war stolz und dankbar, bei der Stadt zu arbeiten“, sagt sie. Schön war der Trubel in der Stadtbibliothek, die in Dreslers Park eröffnet wurde, schön war das Miteinander mit den Sportlern. „Weil ich Menschen mag.“

Aus dem Jahr 2016 stammen die nächsten Blätter, die Petra van Amen in die Chronik ihres Unglücks aufnimmt. In der Verwaltung wurde neu organisiert, Ansprechpartner haben gewechselt. Es geht um die Verpflichtung zu Überstunden, Mehrarbeit und Bereitschaftsdienst, erstmals nimmt die Hallenwartin Kontakt zu Personalrat und Gewerkschaft auf. Ein paar Monate später werden Urlaubsplanung und Überstunden zum Thema, es häufen sich Fragen zu Dienstplänen und Stundennachweisen. Petra von Amen bewahrt die Ausdrucke der Mails auf, notiert handschriftlich Reaktionen.

Erster Krankheitsausbruch und Wiedereingliederung

Monat um Monat werden weitere Eskalationsstufen erreicht. Ende 2017 wird der Dienst-PC aus der Halle geholt. „Ich würde zu lange Emails schreiben“, notiert Petra van Amen die Erklärung eines Vorgesetzten. Der sagt ihr im Gespräch auch, sie könne sich einen anderen Arbeitsplatz suchen, wenn es ihr bei der Stadt nicht mehr gefalle. „Das war das erste Mal, dass ich Angst hatte, meinen Arbeitsplatz verlieren“, schreibt Petra van Amen an diesem Tag auf. Fortan wird aller Schreibkram auf Papier ins Rathaus und wieder zurück getragen, Dienstpläne, Bestellungen, Veranstaltungsanmeldungen.

Fakten

Im ersten Halbjahr 2022 sind im Siegerland 116 Fehltage je 100 Versicherte wegen psychischer Erkrankungen angefallen. Das steht im DAK-Gesundheitsreport. Von 2011 bis 2021 nahm die Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen in NRW um 34 Prozent zu.

Haben im Jahr 2000 noch rund 51.500 Menschen erstmals eine Erwerbsminderungsrente wegen einer psychischen Erkrankung erhalten, waren es 2020 bereits rund 73.000. Das ist in diesem Zeitraum ein Anstieg um rund 42 Prozent. Das berichtet die Deutsche Rentenversicherung. 41,5 Prozent der Erwerbsunfähigkeitsrenten entfallen auf psychische Leiden.

Bei den psychischen Erkranken mit Arbeitsunfähigkeit sind Depressionen mit 13 Prozent die meistgenannte Krankheit, gefolgt von Angst- oder Panikstörungen (6 Prozent).

„Am 15. Mai (hatte Frühschicht) wollte ich morgens zur Arbeit aufstehen. Aber es funktionierte nicht. Es war so, als ich würde ich auf meinem Bett kleben.“ Petra van Amen wird krank geschrieben, nach gut zwei Monaten wird sie von ihrer Krankenkasse zur Vertrauensärztin geschickt. Zwei Jahre nach den ersten Irritationen, die am Anfang noch nach ganz gewöhnlichem Alltagsgeschäft aussehen, fallen im Gespräch erstmals die Worte „Burn Out“ und „Mobbing“.

Nach einer Reha ist Petra van Amen – inzwischen hat sie sich auch von einem Anwalt beraten lassen –. wieder arbeitsfähig. Für sie ist ein „Betriebliches Wiedereingliederungsmanagement“ vorgesehen, üblich nach langer Krankheitszeit: Stundenweise nähern sich die Beschäftigten dabei ihrer regulären Arbeitszeit wieder an, während die Krankenkasse die Kosten trägt. „Ich war so erleichtert und glücklich“, schreibt Petra van Amen über den Tag im April 2019, an dem sie das Wiedereingliederungsgespräch im Rathaus geführt hat. Schriftlich wird ihr bestätigt, dass ihr „Wunsch nach Arbeitszeitreduzierung (künftig keine Wochenendarbeit)“ unterstützt werde.

Vergleich beim Arbeitsgericht

Petra van Amen stolpert über einen Standardsatz, den die Stadt offenbar in alle Arbeitsverträge aufnimmt und auch aus dem Änderungsvertrag für sie mit der verkürzten Wochenarbeitszeit nicht herausnimmt. „Im Rahmen begründeter betrieblicher Notwendigkeit“ sei die Beschäftigte zu Überstunden und Wochenendarbeit verpflichtet. Das will Petra van Amen nicht unterschreiben. Es geht hin und her – bis zum Arbeitsgericht, wo am 16. Juli 2020 ein Vergleich geschlossen wird: „Die Parteien sind sich darüber einig, dass die Klägerin (...) weder zur Samstags- und Sonntagsarbeit noch zu Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Überstunden und Mehrarbeit verpflichtet ist.“ Ein paar Wochen zuvor hat der Kommunale Arbeitgeberverband, durch den sich die Stadt Kreuztal vertreten lässt, den Weg dafür freigemacht. „Die Beklagte (also die Stadt Kreuztal, d. Red.) ist inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, dass sie sich im Hinblick auf das bisherige Agieren der Klägerin bei kurzfristig auftretenden Personalengpässen auf ihre Person zukünftig wohl kaum verlassen kann.“

In der Zwischenzeit scheitert die betriebliche Wiedereingliederung. Dokumentiert ist ihre Aufforderung an ihre Vorgesetzten, mit ihr nicht weiter über ihr privates Handy und ihre private Mail-Adresse zu kommunizieren, Petra van Amens dienstliche Mail-Adresse („...@kreuztal.de“) wurde anscheinend gelöscht. Petra van Amen moniert, dass sie an ihrem Arbeitsplatz allein gelassen wird, obwohl die Begleitung durch einen Kollegen verabredet gewesen sei. Mit Schreiben vom 1. August 2019 bricht die Stadt Kreuztal die Wiedereingliederung ihrer Hallenwartin ab. Die Arbeitsmedizinerin beim Arbeitsmedizinischen Zentrum, das von der Stadt hinzugezogen wird, rät zum Einsatz am bisherigen Arbeitsplatz: „Der Gesundheitszustand hat sich insgesamt so stabilisiert, dass ein Antrag auf Frühverrentung aus meiner Sicht keine Aussicht auf Erfolg hat.“

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Am 18. September 2019 teilt Petra van Amen der Personalabteilung mit, dass sie am 14. Oktober ihren Dienst wieder antritt. Die darauf erfolgende Einladung zum persönlichen Gespräch am 30. September schlägt sie aus: „Gerne.., aber erst ab dem 14.10.2019.“ Das findet dann an ihrem ersten Arbeitstag statt. In den folgenden Wochen wird wieder über Dienstpläne und Pausenzeiten verhandelt.

Eskalation

Anfang 2020 strebt die Stadt ein weiteres Betriebliches Eingliederungsmanagement an, Petra van Amen weist dies als „absolut nicht zielführend“ zurück. Insgesamt wird der Tonfall in den Schreiben frostiger. In einem Schreiben an den Anwalt der Kollegin äußert der Vorgesetzte seinen Ärger: Die Beschäftigte verweigere sich dem persönlichen Gespräch und verkehre „mit schöner Regelmäßigkeit“ schriftlich mit ihren Ansprechpartnern: „Sie werden verstehen, dass ein solches Verhalten geeignet ist, das Vertrauensverhältnis nachhaltig zu stören.“ Im Februar bekommt Petra van Amen die Einladung zu einem Mitarbeitendengespräch, in dem es um „diverse Mängel in der Aufgabenerledigung“ gehen soll. „Ich wusste in dem Moment, nach dem Lesen, dass ich meine Arbeitsstelle verlieren werde“, notiert Petra van Amen. Die Kommunalaufsicht beim Kreis Siegen-Wittgenstein, an die sie sich mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Vorgesetzten wendet, verweist auf die Zuständigkeit des Arbeitsgerichts. Erstmals schaltet sich nun auch Bürgermeister Walter Kiß selbst ein. Vorwürfe, die Petra van Amen in der Dienstaufsichtsbeschwerde geäußert hat, weist er als „ungeheuerlich“ zurück.

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Zusammenbruch und Ausstieg

Petra van Amen meldet sich krank, die Stadt schaltet den Sozialmedizinischen Dienst ihre Krankenkasse ein. Das Gutachten des beauftragten Arztes fällt deutlich anders aus. Nur wenige Monate nachdem die Arbeitsmedizinerin der Hallenwartin einen stabilen Gesundheitszustand bescheinigt hat, sieht der Arzt der Krankenkasse nun eine „höchstgradig depressive“ Patientin vor sich. „Die Bedingungen sind (...) durch die gestörten Beziehungen zu den Vorgesetzten so, dass sie sich derzeit nicht in der Lage fühlt, dort wieder mit Freude hinzugehen.“ Wegen des „engen zeitlichen Zusammenhangs“ der Einladung zum Mitarbeitendengespräch und der Krankmeldung veranlasst die Stadt weitere Termine beim Arbeitsmedizinischen Zentrum (AMZ) und zur amtsärztlichen Untersuchung beim Gesundheitsamt des Kreises. Die Termine werden von AMZ und Kreis abgesagt.

Die erkrankte Hallenwartin schreibt nun an den Petitionsausschuss des Landtages.

Am 3. Dezember 2020 tritt Petra van Amen eine weitere Reha an. Am 7. Dezember kündigt die Stadt ihr eine Abmahnung an: Sie sei seit 4. Dezember „unentschuldigt dem Dienst ferngeblieben“. Ein Missverständnis, erwidert Petra van Amen: Sie sei davon ausgegangen, dass die Stadt durch die Deutsche Rentenversicherung über die Reha informiert werde. Die Abmahnung trägt das Datum 4. Januar 2021. Am 30. März unterschreibt Petra van Amen einen Aufhebungsvertrag zur „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“.

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Den Boden unter den Füßen verloren

Anfang 2022 sieht der Arzt bei seiner Patientin, die sich in Therapie begeben hat, keine Erwerbsfähigkeit mehr. Um ihre Erwerbsunfähigkeitsrente streitet sie derzeit beim Sozialgericht Dortmund. Petra van Amen hat sich zurückgezogen, unternimmt gelegentlich Spaziergänge im Wald, meidet Begegnungen. „Sie haben den Boden unter den Füßen verloren“, habe der Therapeut zu ihr gesagt.

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