Siegen-Wittgenstein. . Dieter Pfau schreibt zweibändige „Zeitspuren“ über das 19. Jahrhundert. Kreisarchiv und Heimatbund sind Partner. 100 000 Euro von Mäzenen.

Es kann losgehen: Ein Jahr lang Recherche, dann das Schreiben. Im Spätsommer 2020 will Dieter Pfau das Manuskript für den ersten Band der neuen „Zeitspuren“ abgeschlossen wissen, zum Jahresende soll er in den Buchhandel kommen. Der Siegener Historiker und seine beiden Kooperationspartner, Kreis und Heimatbund, wollen die Siegen-Wittgensteiner Geschichte des langen 19.Jahrhunderts bis zum Beginn des ersten Weltkriegs in Buchform bringen.

Anlass für das Buchprojekt ist das 200-jährige Bestehen der nach dem Wiener Kongress gebildeten Landkreise — gefeiert wurde das Jubiläum im vorigen Jahr auf dem Giller. Zuarbeit leistet das Kreisarchiv — als „Backoffice“, wie es Archivar Thomas Wolf formuliert. Archivmitarbeiterin Elisabeth Strautz ist Mitautorin. Sie hat bereits die „Zeitungsberichte“ im Archiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin gesichtet: Das sind die dort komplett gesammelten Vierteljahresberichte, die die preußischen Landräte der Regierung zu erstatten hatten.

Das Thema

Wer will, kann den zweiten „Zeitspuren“ — die ersten, von 2009, befassen sich mit dem Früh- und Hochmittelalter — beim Wachsen zusehen. Auf www.zeitspuren-siwi.de wird die Ereignistafel geführt. Sie beginnt mit der ersten Karte des Kreises Siegen aus dem Jahr 1817 – so schnell gezeichnet, dass das Amt Ferndorf, also die heutige Stadt Kreuztal, prompt vergessen wurde. Dann unter anderem der Prospekt der Düsseldorfer Industrieausstellung von 1902, für die Friedrich Reusch die Bronzeplastiken von Henner und Frieder gefertigt hat. Und der Blick ins Innenleben der Weißen Villa der Brüder Dresler in Kreuztal, die Klaus Vetter, den Ehrenpräsidenten der IHK ganz besonders reizt: „Die Villa Dresler in Eiserfeld steht gerade zum Verkauf“ — ein Traum, das Haus des Bergwerksdirektors neben dem Reinhold-Forster-Erbstollen ebenso spektakulär zu retten wie die Villen seiner Eltern und seines Onkels in Kreuztal.

Vetter macht das neue Zeitspurenprojekt möglich, indem er 100 000 Euro einsammelt: „Ich habe viele Freunde gefunden, die das unterstützen.“ Komplett wird die Finanzierung durch einen Anteil von 50 000 Euro aus dem Kreishaushalt und die Arbeitsleistung des Kreisarchivs. Landrat Andreas Müller weiß den Kraftakt zu schätzen, Mäzene zu gewinnen: „Das geht für soziale Projekte einfacher als für ein Buchprojekt.!

Das 19. Jahrhundert in Siegerland und Wittgenstein? Für Dieter Pfau besteht es aus zwei Abschnitten, die durch das Jahr 1861 getrennt werden. das war das Jahr, in dem die Ruhr-Sieg-Eisenbahn fertig wurde. „Eigentlich ein Segen, aber auch ein Fluch.“ Denn sie schaffte mehr Siegerländer Erz ins Ruhrgebiet, als sie Kohle hierhin brachte. Durch Zölle, Produktions.- und vor allem Transportkosten geriet die Region ins wirtschaftliche Hintertreffen. 1890 war das Siegerland, „wieder einmal Notstandsgebiet“, stellt Pfau fest.

Wie vorher das Wittgensteiner Land, das sich Elisabeth Strautz angesehen hat: Wenig Arbeit, wenig Essen, wenig Geld. Das wurde besser, als die Preußen die Grafschaft übernahmen, ihre Verwaltung einführten und zuerst einmal die Steuern senkten. „Die Region hat sich immer wieder neu erfunden“, sagt Klaus Vetter — den Strukturwandel, so betont der Unternehmer, habe sie stets aus eigener Kraft bewältigt: „Uns hat hier niemand unterstützt.“

Die Unterstützer

Erklären, wer wir sind und warum wir so ticken, wie wir ticken. Wenn die „Zeitspuren“ das schaffen, haben sie aus Sucht von Landrat A ndreas Müller ihr Ziel erreicht.

Heimatgeschichte bekannter machen. Dieses Ziel, das Paul Breuer, Vorsitzender des Heimatbundes, formuliert, erscheint angesichts der zeitlichen Nähe des Thema erreichbarer als mit den ersten, mittelalterlichen „Zeitspuren“ — obwohl auch die mit einem Absatz von bereits 2200 Exemplaren schon so etwas wie ein regionaler Geschichts-Bestseller geworden sind.

J e komplexer und internationaler die Welt sich darstellt, um so größer wird der Drang zu Geborgenheit und Zugehörigkeit. Und den, so IHK-Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener, werden die „Zeitspuren“ erfüllen. Und sie werden Dinge zurechtrücken, glaubt Gräbener: Wer sich mit Arbeits- und Lebensbedingungen des 19.Jahrhunderts befasse, „bekommt ein Gefühl, wie verquer manche moderne Diskussion ist.“

Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, der existiert nicht. Das hat nicht Sparkassendirektor Andreas Dreker gesagt, sondern der Schriftsteller Salman Rushdie. Der Mann hat Recht, sagt Dreker.

Stichworte zu den Zeitspuren

Die beiden Zeitspuren-Bände über die Geschichte des 19. Jahrhunderts in Siegerland und Wittgenstein werden zum einen eine Wirtschafts- und Industriegeschichte der Region sein, die einst 84 Prozent zur Eisenerzförderung Preußens beitrug, zum anderen aber auch eine politische Verwaltungsgeschichte. Das können Stichworte werden:

E wie Eisenbahn: 1859 wird der Rahrbacher Tunnel durchbrochen und damit die Verbindung zwischen Littfeld und Welschen Ennest hergestellt — das Gemälde von Jacob Scheiner ist Teil der „Ereignistafel“ auf der Zeitspuren-Seite im Internet. 1861 werden in Siegen die Bahnlinien nach Köln und Hagen eröffnet. Eisenbahn und Chausseebau bringen die Industrie in die Kreise Siegen und Wittgenstein.

H wie Hüttenwerk: 1855 wird in einem in Augsburg erscheinenden „Polytechnischen Journal“ das „Stahlpuddeln auf dem königlich preußischen Hüttenwerke zu Lohe bei Siegen“ berichtet; in Kredenbach wird das Eisenerz aus dem Stahlberg verhüttet. Dieter Pfau weist darauf hin, dass das noch staatliche Unternehmen eine der ersten Aktiengesellschaften wird. „Das Siegerland bildet eine große Metallfabrik“, findet der preußische Gesandte in den Niederlanden.

K wie Kaiserlinde: Als Kaiser Wilhelm ein Attentat überlebt, pflanzen Männer aus dem Amt Ferndorf am 20. Oktober 1878 auf dem Kindelsberg eine Kaiserlinde. In einem aufwändig gestalteten Urkundenbuch sind sämtliche Spender verzeichnet, außerdem die Rede von Pfarrer Achenbach. Direkt daneben wird 1907 der Kindelsbergturm errichtet.

S wie Stoecker: Ein Name, der schon bei der Vorstellung des Buchprojekts für Diskussionsstoff sorgt. „Er steht für Traditionen, die uns bis heute prägen“, sagt Landrat Andreas Müller. Während die Nachbarn in Olpe von dem liberalen Zentrums-Juristen Peter Reichensperger aus Köln vertreten wurden, fand der evangelikale, antisemitische Hofprediger Adolf Stoecker aus Berlin seine politische Basis bei den Siegerländern, die der Stoeckerpartei zum einzigen Direktmandat im Reichstag verhalfen. Dieter Pfau sieht ihn als Zeitgenossen der Industrialisierung: Religiöse Erneuerung sollte gegen die Verunsicherung wirken — auch eine Art, mit schneller wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderung umzugehen.

W wie Wittgenstein:Oberpräsident von Vincke findet zwar nach wie vor, dass Wittgenstein eher nach Hessen als nach Westfalen gehört — vor allem aber dahin, wo auch das Siegerland ist: „Es lebt und webt, steht und fällt mit Siegen.“

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