Eiserfeld. Das Leben unter der Siegtalbrücke in Siegen wird sich verändern. Für etliche Jahre: Autobahn Westfalen erklärt den Anwohnern, was auf sie zukommt
Die erste Informationsveranstaltung der neu gegründeten Bürgerinitiative (BI) Siegtalbrücke war auch ein Nachbarschaftstreffen. Man kennt sich im Nachtigallweg, in Grabettstraße und Freiheitsstraße und auch an der Eiserfelder Straße im Tal. Und man kennt sich aus mit der großen „Nachbarin“ Siegtalbrücke. Nun steht mit deren Rückbau und dem fast parallelen Neubau der A-45-Talbrücke in den Jahren 2023 bis 2035 ein Projekt an, das so gar nicht trivial ist. Weder für die in Planung und Durchführung verantwortliche Autobahn GmbH noch für die Menschen, die davon sehr unmittelbar betroffen sind. Die Beteiligten machen sich Gedanken, die Anwohner auch Sorgen; die BI will all das – diesseits und auch gern jenseits des Siegtals – bündeln. Sie will vermittelnd und informierend kommunizieren, eine rechtssichere Vertretung sein.
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Knapp 60 Haushalte hätten sich bereits für eine Mitgliedschaft gewinnen lassen, so BI-Vorsitzender Mark Rothenpieler, es könnten und sollten aber durchaus mehr sein: „Um die 100 wären gut.“ Bei einem Jahresbeitrag von 120 Euro, unabhängig vom Beitritt stets rückwirkend ab dem 1. Januar 2023 zu zahlen, käme auf längere Sicht ein Betrag in die Kasse, der die BI auch ertüchtige, falls anwaltliche oder gutachterliche Hilfe benötigt würde. Also warb Rothenpieler für nachbarschaftliche Solidarität, am Mittwochabend im Schützenhaus in der Tretenbach mit weiterem Erfolg.
Autobahn GmbH lässt Brücke mit Ultraschall untersuchen
Wer Mitglied der Initiative sei, werde auf dem Laufenden gehalten, was neue Entwicklungen hinsichtlich des Planungsfortschritts angehe. Dazu gehört auch die Information zur Bauwerksdiagnostik, die Anfang Februar schon in der BI gestreut worden ist. Es würden sowohl zerstörungsfreie als auch zerstörungsarme Untersuchungen am Überbau und an den Pfeilern der Brücke durchgeführt, so die Mitteilung der Autobahn GmbH. Beides solle dazu dienen, den Zustand des Bestandsbauwerks besser beurteilen zu können und den Rückbau verlässlich und sicher zu planen.
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Zu den zerstörungsfreien Untersuchungen gehörten solche mit Hilfe von Ultraschallwellen und Georadar, heißt es dort. Anhand der Ultraschalluntersuchungen könnten „Aussagen über die Betonqualität, über gegebenenfalls vorhandene Gefügestörungen und den Verpresszustand der Spannglieder getroffen werden, ohne das Bauwerk äußerlich ankratzen zu müssen“. Mit Hilfe des Georadars würden die Lage der Spannglieder sowie des Bewehrungsstahls bestimmt. Somit könne überprüft werden, ob beim damaligen Bau in den 1960er Jahren auch tatsächlich so gearbeitet worden sei, wie es dem Bauwerk aufgrund von Bestandsplänen und -statiken unterstellt werde. Abweichungen könnten auf diese Weise in der Abbruchstatik berücksichtigt werden.
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Im Zuge der zerstörungsarmen Untersuchungen sollen kleine Bohrkerne aus dem Bauwerksbeton und dem Asphalt entnommen werden. Darüber hinaus würden „an ausgewählten Stellen Spannglieder auf einer überschaubaren Länge oberflächlich freigelegt, um ihren Zustand auch handnah zu begutachten“. Die meisten Untersuchungsstellen befänden sich im Hohlkasten und in den Pfeilern der Brücke, so die Autobahn GmbH; nur in geringem Umfang werde auch außen gearbeitet, zum Teil auch von Gerüsten aus. Beeinträchtigungen hinsichtlich Lärm, Staub oder Verkehr sollten für die Anlieger nicht entstehen.
Abschneiden der Brücke in Fünf-Meter-Stücken dauert anderthalb Jahre
Folgt man der Darstellung der Verantwortlichen, dann scheint es im Sinne aller zu sein, auch beim künftigen Abriss der rund ein Kilometer langen und bis zu 100 Meter hohen Talbrücke möglichst behutsam vorzugehen. So soll der Baukörper selbst hoch oben eingehaust werden, wenn es um den Abtrag zunächst der nach Norden führenden Fahrbahn geht – vermutlich in einem Seilschnittverfahren, also dem sukzessiven Abschneiden der Betonfläche in Fünf-Meter-Stücken, und zwar in einem Zeitraum von anderthalb Jahren. Der Abriss der Fahrbahn gen Süden soll und kann erst erfolgen, wenn dann die neue Achse, zwanzig Meter weiter Richtung Siegen, fertiggestellt und befahrbar ist. Die Pfeiler, elf an der Zahl, würden jeweils von oben abgegriffen, abgepickelt eher nicht, so der Kenntnisstand der BI. Beschleunigen würde den Abriss eine teilweise Sprengung des Bauwerks. Die Zufahrten zur Baustelle sollten jeweils über die Hänge erfolgen, auf der Südseite, wo die BI zunächst vorrangig agiert, wäre das im Bereich des Gilbergskopfs.
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Dass der Bauablauf funktionieren werde, daran zweifelte am Mittwoch kaum jemand. Auch nicht an der Notwendigkeit des (dann sechsspurigen) Brückenneubaus. „Es geht ja auch um unsere Infrastruktur“, so Mark Rothenpieler. Allerdings wurde deutlich, dass natürlich jene, deren Häuser im Zuge der Baumaßnahme weichen oder zeitweise verlassen werden müssen, besonders und auch besonders emotional betroffen sind. Für sie stellt sich zudem die Frage nach einer angemessenen Entschädigung. Diese stellt sich auch für die Anwohner, deren Häuser künftig möglicherweise an Wert verlieren würden.
Wer kauft jetzt noch die Häuser an den Pfeilern?
Manche Gebäude müssen während der Bauphase evakuiert werden. Das könnte auch für die beiden Häuser der Familie Hecken gelten. Sowohl das Elternhaus von Michael Hecken als auch sein eigenes, 1989 errichtetes Haus befinden sich im Außenradius der Siegtalbrücke, und zwar im nahen Umfeld eines der bestehenden Pfeiler. Michael Hecken ist verunsichert. Das Haus des verstorbenen Vaters soll nach dem Willen der Familie verkauft werden. Aber an wen? Auf dem freien Markt oder doch an die Autobahn GmbH? Beim Treffen der BI war zu hören, dass die Autobahn GmbH durchaus aufgeschlossen für Kaufangebote sei.
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Allerdings hat Hecken vor gut einem Jahr in seinem Fall von der damals angefragten Teamleitung Konstruktiver Ingenieurbau, Katharina Erbismann, für sich eine völlig andere Auskunft erhalten: Es ließe sich kein ersichtlicher Grund ableiten, der einen dauerhaften Erwerb oder den Rückbau eines der beiden Hecken-Häuser notwendig mache. Die „maßgeblichen Beeinträchtigungen“ der beiden Grundstücke (in zweiter Reihe, hangseitig am Nachtigallweg) seien voraussichtlich vor allem während der Rückbauphase zu erwarten. Nicht ausgeschlossen sei die „temporäre Inanspruchnahme eines Teilbereichs des Grundstücks“, diese würde dann „selbstverständlich nach geltendem Recht entschädigt“. Je nach Lärmprognose seien allerdings Ausgleichsmaßnahmen geplant. Konkret: die temporäre Unterbringung zum Beispiel in einem Hotel.
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Zeitweise evakuiert worden ist die Familie Hecken in den späten 1960er-Jahren beim Bau der Siegtalbrücke. Michael Hecken erinnert sich: „Mein Vater hat das Haus 1960 gebaut, und als der Rohbau stand, wurde er recht eindringlich dazu ermuntert, Haus und Grund aufzugeben. Das wollte mein Vater partout nicht. Zum 1. August 1967 mussten wir aus unserem Haus ausziehen und konnten es bis zum Frühjahr 1968 nicht bewohnen. Erst sollten wir in eine Wohnung in den neuen Wohnblocks am Siegenstein ziehen, doch dann – und das war für die Familie viel günstiger – bot sich ein Nachbar an.“
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