Siegen. Die 1920er hatten Schattenseiten, waren partymäßig aber ganz weit vorn. Im Apollo leben die „Roaring Twenties“ für einen Silvesterabend auf.
Hereinspaziert in die „Roaring Twenties“: Das Westfälische Landestheater präsentiert im Apollo-Theater in den beiden letzten Stunden des alten Jahres die rassige Show „Als gäb`s kein Morgen“ über die angeblich so wilden 20er Jahre.
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Wie hatten sich die Apollo-Besucher herausgeputzt! Viele Herren in Lackschuhen, weißem Hemd, Fliege, Hosenträgern und Schiebermütze, die Damen selbstbewusst geschminkt, mit glitzernden Hüten, schönem Schmuck, Nylonstrümpfen und dem mehr oder weniger „kleinen Schwarzen“, jenem Kleidungsstück, das, wie die Zuschauer im Laufe des Abends noch erfahren werden, von Coco Chanel ebenso wie das berühmte „Nr.5“ erfunden wurde. Und tatsächlich: Einige Damen im Theater duften entsprechend.
Silvester in Siegen: Publikum im Apollo-Theater kleidet sich im Stil der 1920er
Authentisch natürlich auch die Damen und Herren auf der Bühne. Wobei bei ihnen unzählige Kleiderwechsel hinzukommen. Die Kostümbildner des Landestheaters haben ganze Arbeit geleistet. Wenn dann noch die Musik der 20er Jahre hinzukommt, ein Bühnenbild, das eine große Spielfläche umschließt, die entsprechende Beleuchtung und eine Band mit großartigen Musikern das alles begleitet, dann kann das nur eine rauschende Bühnen-Show werden – über die kleinen Einschränkungen wird noch zu sprechen sein.
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Wer allerdings gekommen ist, um nur die Sonnenseiten dieses Jahrzehnts präsentiert zu bekommen, sieht sich getäuscht. Es werden auch die Schattenseiten erwähnt: Die politischen Morde durch Rechtsradikale an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Walter Lübcke (pardon: Rathenau), dem Außenminister des Deutschen Reiches, dessen Regierungssitz für einige Jahre in das beschauliche Städtchen Weimar verlegt werden musste, weil es in Berlin zu unruhig war. Und natürlich wird auch das Aufkommen der Nazis immer wieder thematisiert. Und das ist auch gut so. Das Licht überwiegt aber: Vor allem die Emanzipation der Frauen, die 1919, kurz nach dem Ende des 1. Weltkrieges und der Abdankung des Kaisers, in Deutschland zum ersten Mal wählen durften.
Silvester-Party im Apollo-Theater Siegen: Starke Frauen auf der Bühne
Songs, durch Tankred Schleinschock geschickt ausgewählt, spiegeln den damaligen Zeitgeist. „Wer hat denn das Kind mit dem Hammer geweckt“, „Was macht der Meier am Himalaya“ oder „Geht die beste Freundin mit der besten Freundin“ sind nur einige Beispiele. Klug auch, die Lautstärke der Band durch Schallwände etwas herunterzufahren. Das macht das Verstehen der Texte leichter.
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Dabei ist es völlig egal, ob Männer schon einmal Damenkleider tragen. Überhaupt scheinen Frauen das Zepter in die Hand genommen zu haben. Auch musikalisch. Während der Mann noch schmachtend „Oh Donna Clara“ singt, antworten die Damen, ganz im Stil frecher Gören: „Mein Emil mit seiner unanständigen Lust“, „Raus mit den Männern aus dem Herrenhaus“ oder, den Tanzstil des Partners persiflierend: „Was machst du mit dem Knie, lieber Hans“. Deutlich wird aber auch, dass die Emanzipation weitgehend auf Berlin beschränkt bleibt, die Frauen sich dort nehmen, was ihnen gut tut und notfalls dafür sogar bezahlen. Während die berühmte Josephine Baker mit ihren atemberaubend langen Beinen und dem Bananenröckchen dort rauschende Erfolge feiert, erhält sie in München Auftrittsverbot und lassen die Kirchenoberen stattdessen die Glocken läuten.
Siegen: Songs im Apollo-Theater würden Jazzclubs zur Ehre gereichen
Ausflüge führen vor allem nach Amerika, in die Welt des Jazz. Und hier zeigen die Protagonisten auf der Bühne, dass sie neben den textbestimmten deutschen Songs auch jede Menge Swing und Blues in den Adern haben. „Sweet Home Chicago“ oder „Puttin on the Ritz“ hätten manchem deutschen Jazzclub zur Ehre gereicht. Ebenso die Schlagzeugkunst von Marco Bussi, an diesem Abend der einzige Siegerländer auf der Apollo-Bühne.
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Kleine Wermutstropfen der Aufführung dürfen aber nicht verschwiegen werden: Etwa, dass von den großartigen Comedian Harmonists, dem legendären Vokalensemble, gerade mal einige Takte vom Band kommen. Zumindest den „Kleinen, grünen Kaktus“ hätten die vier Männer auf der Bühne gut hinbekommen. Und Tankred Schleinschock, der kreative Kopf des Ensembles und perfekte Begleiter am Klavier, muss sich fragen lassen, wieso er immer wieder meint, den Chef der Band herauskehren zu müssen und die drei Blechbläser der Band mit windmühlenartigen Armbewegungen dirigiert, als habe er ein riesiges Orchester vor sich.
Das Publikum im nahezu ausverkauften Apollo genießt den Abend, stößt mit Intendant Markus Steinwender auf das neue Jahr an und tanzt noch lange und leidenschaftlich: Als gäb`s kein Morgen.
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