Siegen. Fachkräfte könnten in Siegen bald noch häufiger fehlen: Es gibt zu viele Azubi-Stellen und zu wenige Bewerber. Wo der Mangel besonders groß ist.

388 junge Frauen und Männer sind derzeit auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle. Gleichzeitig sind im Agenturbezirk Siegen noch 1516 Ausbildungsplätze unbesetzt. Man muss kein Zahlenexperte sein, um zu verstehen: Es gibt zu viele Stellen und zu wenige Bewerber. Die aktuellen Zahlen der Arbeitsagentur Siegen (Stand Juli) zeigen, dass auf jede unversorgte Bewerberin oder jeden unversorgten Bewerber 3,9 unbesetzte Berufsausbildungsstellen kommen. Es ist kein neuer Trend – doch je länger er anhält, umso mehr wird er zum Problem.

Ausbildungsmarkt in Siegen-Wittgenstein: Das ist die Entwicklung

„Wir bewegen uns mit rasanter Geschwindigkeit auf einen eklatanten Mangel an Fach- und Führungskräften zu“, sagt Klaus Gräbener. Vor 15 Jahren hätten junge Menschen noch händeringend Ausbildungsplätze gesucht. „Heute ist es genau umgekehrt: Offene Stellen ohne Ende, jedoch vielfach keine Bewerber in Sicht“, betont der IHK-Hauptgeschäftsführer. Zahlreiche Firmen suchen auch vor dem Ausbildungsstart in diesem August oder September noch Azubis. Vor allem die gewerblich-technischen Ausbildungsgänge seien betroffen, erläutert Klaus Gräbener.

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Industrie und Handel sind damit nicht allein: Wie in allen Branchen auch gäbe es auch im Handwerk einen Bewerbermangel bei den Ausbildungsstellen, erläutert Stefan Simon, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Westfalen-Süd. Der demografische Wandel verstärke die Entwicklung zusätzlich. Jede Branche „buhle“ um junge Menschen, so Stefan Simon, der das Ganze schon mit einem Kampf vergleicht.

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Für die wiederum ist das Angebot riesig. Das führe gleichzeitig dazu, dass die Bewerber „unheimlich lange zögern“, bis sie sich überhaupt für eine Ausbildung entscheiden, manchmal erst kurz vor Ausbildungsstart, berichtet Klaus Gräbener. Das bewirkt aber auch, dass die Bewerber kurz nach Ausbildungsstart „schneller die Brocken hinschmeißen“, erläuterte Klaus Gräbener bei einem Besuch bei der Spedition Siebel (wir berichteten). Schnell eine Alternative zu finden ist bei dieser Marktsituation deutlich leichter geworden.

Bewerbermangel bei Ausbildungen in Siegen-Wittgenstein: Das sind die Gründe

Die Ursachen für den Bewerbermangel sind schon länger bekannt: Da gibt es den Drang zum Abitur und Studium, der auch seitens der Eltern verstärkt vermittelt wird, oder die fehlende Berufsorientierung in Präsenzform in den vergangenen Jahren im Zuge der Pandemie. Sowohl für die Kreishandwerkerschaft als auch die Industrie- und Handelskammer war die virtuelle Berufsorientierung kein Ersatz. „Man muss Metall riechen, wenn man in den Metallberuf hinein will“, sagt Klaus Gräbener.

Die Zahlen

Zum Stichtag 29. Juli gab es 1570 eingetragene Ausbildungsverträge im IHK-Bezirk (-1,2 Prozent gegenüber Ende Juli 2021), davon 1044 in Siegen-Wittgenstein (- 1 Prozent) und 526 (- 1,5 Prozent) in Olpe.

Zuwächse gab es laut IHK in folgenden Berufen: Industriekaufleute 199 (+ 4,2 Prozent), Elektroberufe 195 (+ 14,7 Prozent), Kaufleute für Büromanagement 82 (+ 12,3 Prozent). Starke Rückgänge gab es in den bedeutsamen industriellen Metallberufen 464 (- 7,8 Prozent).

Die Eintragungszahlen seien zwar etwas besser als befürchtet, „aber alles andere als gut“, betont Klaus Gräbener. In den 2010 Jahren vor Covid-19 hätten die Unternehmen jahresdurchschnittlich 2280 Lehrverträge abgeschlossen (2009 bis 2019). 2020 waren es 1821, 2021 dann 1934. „Wir können uns glücklich schätzen, wenn es dieses Jahr 1800 Verträge werden“, so Klaus Gräbener. Industrie und Handel würden ca. 500 Ausbildungsverträge fehlen und das Jahr für Jahr im nächsten Jahrzehnt.

220 offene Azubi-Stellen hätte es im Januar 2022 gegeben, erläutert Stefan Simon für die Kreishandwerkerschaft Westfalen-Süd. In der Regel verarbeite sie 670 bis 680 Ausbildungsverträge pro Jahr. Zuwächse von 20 bis 30 Prozent gab es im vergangenen Ausbildungsjahr im SHK-Handwerk und bei den Elektronikern, so Stefan Simon. Er vermutet, dass ein Grund dafür die Krisensicherheit dieser Berufe in und trotz Pandemie war.

Ein weiterer Punkt sei aber auch, dass „nur noch Krise diskutiert wird“, so der IHK-Hauptgeschäftsführer. Da gibt es die Ukraine-Krise, die Corona-Krise, die Energie-Krise – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Jede Krisenmeldung verfestige die Unsicherheit bei den Menschen. Auch das sei ein Grund, warum sich immer mehr junge Menschen für eine längere Schullaufbahn oder ein Studium entscheiden würden.

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Stefan Simon beklagt wiederum, dass trotz der inzwischen hoch-technisierten Berufe im Handwerk in vielen Köpfen noch ein „antiquiertes Bild“ des Handwerks festgesetzt sei. „Ein Umdenken herbeizuführen, ist nicht so einfach.“ Stefan Simon vermutet, dass auch das ein Grund für den Azubi-Bewerbermangel in seiner Branche ist.

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„Der Schlüssel zur Lösung liegt in den Elternhäusern, in den Schulen und den Betrieben gleichermaßen“, sagt Klaus Gräbener. Die Unternehmen müssten noch mehr bei den jungen Leuten dafür werben, die Vorteile einer betrieblichen Ausbildung gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu erkennen.

Top 10 unbesetzte Ausbildungsplätze

Das sind laut Arbeitsagentur Siegen die Top 10 der unbesetzten Ausbildungsplätze:

1. Kaufmann/-frau im Einzelhandel (111 Plätze)

2. Verkäufer/-in (79)

3. Industriekaufmann/-frau (62)

4. Fachkraft Lagerlogistik (56)

5. Industriemechaniker/-in (45)

6. Zerspanungsmechaniker/-in (43)

7. Kaufmann/-frau im Büromanagement (38)

8. Kraftfahrzeugmechatroniker/-in Pkw-Technik (36)

9. Elektroniker/-in für Betriebstechnik (35)

10. Fachverkäufer/-in Lebensmittelhandwerk Bäckerei (34)

Klaus Gräbener ist auch der Ansicht, dass bei den staatlich vorgehaltenen Stützangeboten weniger mehr wäre. Heißt: Die Anzahl der berufsvorbereitenden Bildungsangebote reduzieren, um die Inanspruchnahme der freien Lehrstellen zu erhöhen. „Wenn man zwischen 15 unterschiedlichen Alternativen aussuchen kann, desto größer wird auch die Beliebigkeit der Entscheidung“, so Klaus Gräbener. Stefan Simon schätzt das Beratungsangebot wiederum nicht als zu groß ein: „Viele Infos helfen, um sich ein gutes Bild zu machen.“

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Eine Ausbildungsgarantie, die der Koalitionsvertrag im Bund vorsieht, sei ein „vereinfachter Lösungsansatz“, der ins Leere laufe, unterstreicht Klaus Gräbener. „Eine staatlich verordnete Ausbildungsgarantie mit entsprechender Umlage stellt ohne Bewerber eher eine Realsatire dar, nicht aber eine Problemlösung.“ Denn dann müssten Firmen, „die keine Bewerber für ihre offenen Lehrstellen finden, auch noch dafür zahlen, dass die jungen Leute, die nicht für eine betriebliche Lehre zu motivieren sind, staatliche Angebote in Anspruch nehmen könnten.“

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