Siegen. Das Musiktheater Kiew im Exil wurde für seinen „Fidelio“ im er mit minutenlangen Ovationen bedacht. Im Publikum: Andrij und Switlana Melnyk.
Die Stühle bleiben leer, denn jene, die auf ihnen sitzen sollten, haben Anderes zu tun. Sie lassen sich entschuldigen, brieflich. Die erste Geige, die zweite Oboe, die Pauke kämpfen gerade ums Überleben. Für ihr Land, für die Freiheit. „Für euch!“, wie sie ausrichten lassen. Sie kämpfen mit Waffen, geben ihr Leben und werden überleben. Das ist die starke Hoffnung, eine Gewissheit, die auf ein „Danach“ setzt: auf den Sieg des Guten über das Böse, des Lichts über das Dunkle, die Demokratie über die Autokratie, die Ukraine über den russischen Aggressor.
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Fidelio: Uraufführung 1805 im besetzten Wien
Und so könnte Ludwig van Beethovens „Fidelio“ in der Fassung des Musiktheaters Kiew im Exil auch eine Blaupause sein für die tiefernste, katastrophale Situation, der sich der ukrainische Staat, selbstständig seit 31 Jahren, spätestens seit dem 24. Februar dieses Jahres ausgesetzt sieht. In der Oper, 1805 im damals napoleonisch besetzten Wien uraufgeführt, geht es um Willkür und Macht, um Alltag und Politik, um Kerker und Ketten und um die große Kraft der Liebe. „Fidelio“ steht für den Wagemut des/der Einzelnen. Im Stück ist das Leonore, die Frau des zu Unrecht hinter Gitter gebrachten Florestan, in der Wirklichkeit ist das jeder Mensch, der die Stimme erhebt für die Grundwerte eines freien und gleichberechtigten Miteinanders. Und so hat Andrey Maslakov, Regisseur und Leiter des Musiktheaters Kiew im Exil, seinen „Fidelio“ in eine Zeit übertragen, die uns näher ist und deren Schatten aktuell so weit, viel zu weit greifen: die der Sowjetunion stalinistischer Prägung, beherrscht von den Kontrollmechanismen des KGB.
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Magnus Reitschuster hat mitgearbeitet
Fand die Uraufführung am 12. Februar 2022 dort statt, wo Maslakovs Modern Music Theatre Kiev beheimatet ist, nämlich in der ukrainischen Hauptstadt, exilierte es nach Kriegsbeginn nach Deutschland, war in Meiningen zu sehen, in Coburg, in Heidelberg und stellte sich nun am Apollo-Theter Siegen noch einmal neu auf. Die von Magnus Reitschuster dramaturgisch mitgestaltete Fassung des „Fidelio“, die das Publikum dort am Samstagabend erlebte und auf die es am Ende mit minutenlangen Standing Ovations reagierte, stellt die Handlung des Stücks in den gegenwärtigen Zusammenhang, rahmt sie ein durch den Blick in den Orchestergraben, der leer nur vordergründig ist.
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Sie sind nämlich da, die Musikerinnen und Musiker – im Geiste vertreten, in Einspielern zu hören, im Klang konzentriert am Flügel in diesem zupackenden, couragierten und virtuosen Musizieren von Pianistin Anastasia Lukiyanenko. Auch der Dirigent ist da, Sergii Golubnychyi, dem das Herz schmerzen muss angesichts dieser Illusion eines Orchesters, der aber vielmehr als (s)eine Rolle spielt, denn er hält das Stück musikalisch zusammen.
Vielleicht ein Wiedersehen beim nächsten Kultur Pur
„Fidelio“ ist Maslakovs vierte Opernproduktion. Er macht die Geschichte nahbar – auch sprachlich, denn gesungen wird, mit Akzent, aber doch recht gut verständlich, auf Deutsch. Maslakov lädt das Publikum ein in die häusliche Umgebung des Kerkermeisters Rocco (Oleksandr Kharlamov). Zwischen Kochtopf und Klosett wird bald klar, dass es um mehr geht als nur um die Liebelei zwischen Marzelline (Maryna Zubko) und Fidelio (Maria Kononova), um mehr als dienstbare Geister wie den Pförtner Jaquino (Vitalii Ivanov) und um mehr als nur ein Gefängnis. Es geht um einen von langer Hand geplanten Akt der Befreiung, das deutet die von Videosequenzen begleitete Ouvertüre bereits an. Dass die gelingt, ist ein Glück – die Zeit des infamen Verfolgers Pizarro (Abdumalik Abdukayumov) ist vorbei. Die Freiheit siegt, die Haltung der siegreichen Leonore zeigt das mit großer Geste an.
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Je länger je mehr, umso stärker werden die Bilder, umso intensiver der Sog, den das Stück entfacht. Die Gefangenen (Chor und Statisterie sind made in Siegerland) auf dem Weg zum Licht, die Stühle als Sinnbild der Zerstörung, die Treppe, die zwar nach oben führt, aber doch die Tiefe zeigt, das riesige Stalin-Banner als Symbol für die Despoten der Welt, die Leere in Haltung und Blick des wohl befreiten, aber in seinem Schicksal noch gefangenen Florestan (Serhii Androshchuk) – all das macht diese Inszenierung zu einer, die es wert ist, weiter verbreitet zu werden. Daran arbeiten Andrey Maslakov und Magnus Reitschuster derzeit intensiv, trommeln bundesweit für diesen „Fidelio“ und durften am Samstag von Landrat Andreas Müller ein vages Versprechen schon hören, mit der Philharmonie Südwestfalen über eine Kooperation (Stichwort: KulturPur) nachzudenken.
Switlana Melnyk hat sich für Ausreise der Ensemblemitglieder eingesetzt
Dass diese Inszenierung überhaupt nach Deutschland kommen konnte, ist auch ein Verdienst von Switlana Melnyk, der Gattin des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk. Sie nutzte Einfluss und Kontakte, um eine Ausreise der männlichen Ensemblemitglieder zu ermöglichen. Dafür dankte ihr Andrey Maslakov am Samstagabend ausdrücklich. Eine Würdigung, die kurz vor der Aufführung auch von städtischer Seite unterstrichen wurde: Das Ehepaar Melnyk war eingeladen, sich ins Goldene Buch der Stadt einzutragen. Und erfuhr von Bürgermeister Steffen Mues und von Theater-Trägervereinsvorsitzendem Prof. Herbert Landau ausdrückliche, klare Solidaritätsbekundungen.
Dafür dankten die Melnyks ausdrücklich. Es sei erst das zweite Mal nach Kriegsbeginn, dass sie auf Reisen seien. Das Anliegen habe sie getrieben, nämlich der ukrainischen Kultur Raum und Geltung zu verschaffen, aber auch die Sehnsucht nach einem Stück persönlicher Freiheit. Sie seien für ein Wochenende aus dem politischen Berlin geflohen, so Andrij Melnyk. Wider besseren Rat, trotz einer gewissen Gefahr und im Bewusstsein eines möglichen Regelverstoßes. Das war es den beiden wert.
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