Siegen. Wirtschaft und Gewerkschaften wollen nicht nur klagen: Sie werden Vorschläge machen, wie die abgehängte Region die nächsten Jahre übersteht.
Transportkosten, die explodieren. Fachkräfte, die sich einen anderen Arbeitsplatz suchen. Azubis, die ihre Lehre abbrechen: 55 Unternehmen mit insgesamt rund 15.000 Beschäftigten haben zu Protokoll gegeben, was die Sperrung der A-45-Brücke Rahmedetal für sie bedeutet. Klaus Gräbener, Hauptgeschäftsführer der IHK Siegen, will mit der Broschüre „Die durchtrennte Lebensader“ Lobbyarbeit machen. Südwestfalen erfahre „strukturelle Standortnachteile, die sich gewaschen haben“, sagt er, „wir sind überzeugt, dass man da gegensteuern muss.“
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So dramatisch ist die Lage
Der Siegener IHK-Hauptgeschäftsführer warnt: Während die öffentliche Aufmerksamkeit für die A 45 und ihre Brücke allmählich nachlässt, spitzt sich die Situation der Betroffenen zu, nicht nur in Lüdenscheid: „Die Schwierigkeiten beginnen eigentlich erst jetzt. Je länger das dauert, desto gravierender werden die Wettbewerbsnachteile.“ Hans-Peter Langer, für Standort und Infrastruktur verantwortlicher Geschäftsbereichsleiter der IHK, zitiert aus den Berichten der Unternehmen:
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Die Krombacher Brauerei gibt vier Millionen Euro mehr für Getränketransporte aus, nur drei Millionen kann sie sich von den Kunden zurückholen. Die Brauerei gehört zu den wenigen Unternehmen, die verstärkt die Bahn nutzen können. Sie braucht länger, fährt ihren Vorteil erst auf langen Strecken aus – und die Tunnel der Ruhr-Sieg-Strecke sind nach wie vor zu schmal für Seecontainer.
Seit Dezember gesperrt
Die A-45-Talbrücke Rahmede wurde am 2. Dezember 2021 gesperrt, als eine Verformung eines Stahlträgers festgestellt wurde. Es wurde befürchtet, dass die Brücke einstürzt.
Seitdem ist die A 45 zwischen Lüdenscheid und Lüdenscheid-Nord unterbrochen. Der Fernverkehr wird ab Frankfurt und vor Dortmund über Köln oder Kassel umgeleitet.
Der Neubau soll fünf Jahre dauern. Die Sprengung ist für 2022 vorgesehen.
Edelstahlwerke: Lkw-Kapazitäten werden knapp
Die Deutschen Edelstahlwerke in Geisweid, die auch viel Material, zum Beispiel Schlacken, zwischen ihren Standorten Witten und Siegen transportieren, weisen auf den knapper werdenden Frachtraum hin. Lastzüge sind länger unterwegs, bevor sie für den nächsten Auftrag zur Verfügung stehen. Teurer werden die Fahrten auch, weil mehr Fahrer eingesetzt werden müssen und Übernachtungskosten anfallen.
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Die Bikar-Metalle in Raumland weichen über die A 46 aus. Das Unternehmen rechnet mit bis zu 35.000 Euro Mehrkosten im Monat – auf die Strecke von fünf Jahren Brücken-Bauzeit gesehen werden das rund zwei Millionen Euro.
Siegerlandhalle verliert Kongresse
Die Siegerlandhalle verliert Buchungen für Kongresse und Tagungen. Sie konnte bisher mit der zentralen Lage werben. Nun sagen Veranstalter ab, weil die Anreise für Teilnehmer aus dem Ruhrgebiet nicht zumutbar sei.
Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener kennt auch die Ängste, dass weitere Brückensperrungen folgen könnten: „Wenn uns so etwas noch mal passiert, wäre das der Quadrat-GAU.“
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So können Auswege aussehen
Wirtschaft und Gewerkschaften wollen in den nächsten Wochen Ideen erarbeiten lassen. „Kluge Ideen, für die wir dann das Geld besorgen“, sagt Klaus Gräbener. Sechs Arbeitskreise mit je zehn Fachleuten sollen Vorschläge zu Bildung und Forschung, zu klimaschonender Mobilität, zur dauerhaften Stärkung des Wirtschaftsstandorts, zu Fachkräftegewinnung, zu digitalen Geschäftsmodellen und zu „Südwestfalen als Energieregion“ machen. Dabei wird es nicht bei den Forderungen nach Mautbefreiung und der Absenkung der Gewerbesteuer bleiben, die den Kommunen von Bund oder Land zu erstatten wären.
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Berufskollegs: Digitaler Unterricht
Zwei Beispiele:
Weil sich weniger junge Menschen um Ausbildungsplätze bemühen, kommen keine Klassenstärken an den Berufskollegs zusammen. Es werden übergreifende „Bezirksfachklassen“ gebildet. Angehende Fliesenleger, so berichtet Stefan Simon, Geschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Westfalen-Süd, müssen das Berufskolleg in Dortmund besuchen. Azubis, die bisher über die A 45 gefahren sind, drohten mit dem Abbruch der Ausbildung, weiß André Arenz, 1. Bevollmächtigter der IG Metall Olpe: „Das hätte ganz fatale Folgen für die Region.“ Die Forderung nach Abschaffung der Bezirksfachklassen liegt auf der Hand. Klassen-Mindestgrößen aufheben, vor Ort nicht vorhandene Lehrkapazität online dazuschalten, folgert Klaus Gräbener: „Dazu müsste man die Berufskollegs digitaltechnisch noch besser ausstatten als jetzt.“
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Kostengünstiges Wohnen am Arbeitsplatz
„Fahrzeit ist Lebenszeit“, sagt Ingo Degenhardt, Geschäftsführer der DGB-Region Südwestfalen. Wer bisher täglich über die A 45 und über die Rahmedetalbrücke gependelt ist, „wird sich sicher überlegen, wo er seine berufliche Zukunft sucht“. Der Umstieg auf die Bahn biete sich selten an. „Ohne Beschäftigte kann ein Unternehmen nicht produzieren.“ Eine Lösung wäre dagegen, „dass man den Leuten vor Ort eine Möglichkeit bietet, kostengünstig unterzukommen“, sagt Klaus Gräbener. „Es ist ein Unterschied, ob man nur montags und freitags fahren muss oder jeden Tag“, bestätigt André Arenz.
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