Niederdielfen. Sie sind vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. Nun überlegen Larysa und Ivan Litkovych, ob es noch zu früh ist, in die Heimat zurückzukehren.
Eigentlich hätten sie in Hagen aus dem Zug aussteigen sollen: „Wir wussten nicht, dass man zum Aussteigen auf den Knopf drücken muss. Deswegen sind wir zunächst in Köln gelandet“, sagt Larysa Litkovych. Am 14. März kommt die Ukrainerin mit ihrem 11-jährigen Sohn Ivan abends in Siegen an. Nun wohnen sie in Niederdielfen bei Yaryna Müller, die selbst aus der Ukraine kommt.
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Die Entscheidung, aus der Heimat zu fliehen, fiel der alleinerziehenden Mutter nicht leicht: „Zuerst wollten wir nicht. Ich wollte meinen älteren Sohn nicht alleine lassen, er ist 27 Jahre alt“, erzählt Larysa Litkovych. Doch dann habe sie „ein Angebot bekommen, nach Lwiw zu fliehen“ - Mutter und Sohn entschließen sich, die Heimat zu verlassen: „Innerhalb einer Stunde haben wir die Sachen gepackt und sind los“, sagt die 48-Jährige.
Älteren Sohn in der Ukraine zurückgelassen
Von Berdytschiw aus, einer Stadt westlich von Kiew, geht es über das nördlich gelegene Schytomyr nach Lwiw. Darauf folgt eine zweitägige Zugreise durch Polen nach Berlin und Köln, von wo aus die beiden schließlich nach Siegen fahren. Ihren älteren Sohn habe die 48-Jährige zurücklassen müssen. Ein kleiner Trost für Larysa Litkovych: Der 27-Jährige ist krank und darf nicht in die Armee. Er leiste stattdessen zivile Hilfe, habe Schutzgräben ausgehoben.
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Kaum in Niederdielfen angekommen, folgen wenige Tage später die Anmeldung bei der Ausländerbehörde und ein Gespräch mit einer Vertreterin der Stadt. Noch in derselben Woche hat Ivan Litkovych seinen ersten Schultag in der Hauptschule Wilnsdorf: „In der Schule sind wir schon zwölf Kinder, die aus der Ukraine kommen.“ In der nächsten Woche, sagt Ivan, kommen noch einige hinzu. Alles, was Ivan für den Unterricht benötigt, stellt ihm die Schule zur Verfügung – das Mittagessen in der Mensa wird ihm bezahlt.
Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache
„Am ersten Tag hat er uns bereits erzählt, wie gut ihn die Mitschüler aufgenommen haben“, freut sich Larysa Litkovych. „Auch wenn sie sich nicht verstehen.“ Außerhalb der Schulzeit verbringe Ivan die Tage hauptsächlich zu Hause. „Er ist noch zu schüchtern, weil er die Sprache nicht versteht“, sagt Larysa Litkovych. Verständnisschwierigkeiten sind bereits bei der Busfahrt nach Hause aufgetreten, wie Ivan berichtet. Ein Mitschüler habe ihm gezeigt, mit welcher Linie er nach Hause komme.
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Während der Fahrt fällt ihm bald auf: „Ich bin in den falschen Bus eingestiegen.“ Ivan fährt gerade in die andere Richtung. Dem Busfahrer zeigt er eine Karte, auf der die Adresse in Niederdielfen steht, doch der versteht den 11-Jährigen nicht. Ein Junge, der die russische Sprache spricht, kommt zur Hilfe, aber Ivan versteh ihn nicht. Schließlich ruft der Junge die Polizei, die Ivan nach Hause fährt.
Freunde und Bekannte aus der Ukraine verstreut in ganz Europa
Nicht nur die Sprachhindernisse stellen für Ivan eine Herausforderung dar. Auch das Malnehmen, sagt die Ukrainerin, muss ihr Sohn neu lernen. Die Art, wie in der Ukraine multipliziert wird, unterscheide sich von der, die in Deutschland an Schulen gelehrt wird. Insgesamt, sagt Ivan, fühle er sich wohl: „Ich bin mit der Schule zufrieden, aber die Schüler haben hier nur sechs Wochen Sommerferien statt drei Monate.“
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In die Heimat und zu anderen Ukrainern, die geflüchtet sind, halten Ivan und Larysa Litkovych stets Kontakt. Ihre Freunde und Bekannte sind weit über Europa verstreut untergekommen: Polen, Österreich, Schweiz und Italien. In Niederdielfen gab es eine freudige Überraschung: „Wir haben schon eine Familie kennen gelernt, die auch aus Berdytschiw kommt“, sagt Larysa Litkovych.
Ermutigende Nachrichten aus der Ukraine
Schytomyr und ihre Heimatstadt Berdytschiw seien beschossen, aber nicht von der russischen Armee besetzt worden, hat die 48-Jährige erfahren. Viele Raketen werden von der ukrainischen Armee abgefangen. „Ich habe heute gehört, dass das Gebiet bis hoch zur belarussischen Grenze befreit wurde“, berichtet Ivan. Mittlerweile sei es in der Gegend ruhiger geworden, einige Dörfer seien befreit worden.
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Yaryna Müller hatte schon zu Beginn des Krieges das Bedürfnis, zu helfen. Viel sei es nicht, das sie tun könne, aber was sie leisten könne, wolle sie anbieten: „Wir haben uns bei der Gemeinde gemeldet, dass wir ein Zimmer für zwei Personen anbieten.“ Der Kontakt zu Larysa Litkovych sei aber über private Kanäle zustande gekommen. „Ich habe selber keine Kindern. Jetzt haben wir quasi eine Ersatzfamilie bekommen“, sagt Yaryna Müller.
Ist eine Rückkehr in die Ukraine schon sinnvoll?
Viele kehren mittlerweile nach Lwiw zurück, sagt Larysa Litkovich. Auch sie habe schon darüber nachgedacht, weil sie mitbekommen habe, dass ihr Haus in Berdytschiw noch stehe. „Wir hoffen, dass es bald ein Ende hat, aber niemand weiß, was auf uns wartet“, sagt die 48-Jährige. Sie fühle sich in Niederdielfen zwar wie zu Hause, doch sie spüre noch immer, wie weit weg sie von ihrer Heimat ist. Auch Yaryna Müller sagt, sie habe vor Kurzem noch gedacht, eine Rückkehr in die Ukraine sei jetzt wieder möglich: „Jetzt denke ich so nicht mehr. Sie sollten abwarten, wie Lage wirklich ist.“ Bis dahin wird Yaryna Müller ihren beiden Gästen ein Heim bieten.
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