Hilchenbach. Uwe und Gabi von Seltmann sind nah dran: Sie erleben die Menschen, die über die Grenze kommen – und sie kennen ihr Land, die Ukraine.

Das Foto wurde vor einigen Jahren gemacht. Zu sehen: Uwe von Seltmann, der Autor aus Müsen mit Wohnsitzen in Polen und Istrien. Seine Ehefrau Gabi, die in Polen geborene Multimedia-Künstlerin, die vor kurzem in einer Animation die Siegener Synagoge am Obergraben sichtbar gemacht hat. In der Mitte Boris Dorfman, dem Uwe von Seltmann sein Buch „A Mentsh“ und Gabriela den gleichnamigen Film gewidmet hat. Sie stehen am Bahnhof Janow, zwei Stationen von Lemberg. Die Gedenktafel erinnert an die 500.000 Juden, die 1942 und 1943 von hier in die Mordlager der NS-Gewaltherrscher verschleppt wurden.

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„Dramatik dieses Existenzkampfes nicht verstanden“

„Sobald ich meine Füße auf das Kopfsteinpflaster von Lemberg oder Czernowitz setze, glaube ich, ich komme nach Hause.“ Uwe von Seltmann ist – digital – Gast bei den Hilchenbacher Grünen. Sie wollen von ihm wissen, wie das ist in der Ukraine, das vom Nachbarland Russland angegriffen wurde. Der gebürtige Müsener berichtet: von seinen Reisen und seiner Arbeit in der Ukraine, von seinen Begegnungen in Russland, über die Geschichte beider Länder, was sie verbindet, aber auch, was sie schon seit Jahrhunderten trennt. Und er spricht über Gefühle. „Dass alles, was wir in den letzten Jahren getan haben, völlig umsonst war.“ Und wie dort das Unverständnis für deutsche Politik wächst. Bei den Einheimischen wie auch bei ihm, dem Gast und Zugezogenen: „Weite Teile der Politik haben immer noch nicht die Dramatik dieses Existenzkampfes verstanden. Ich schäme mich zum ersten Mal, einen deutschen Pass zu tragen.“

Zur Person

Uwe von Seltmann wurde 1964 geboren. Er wuchs in Müsen auf, ist studierter Theologe, arbeitete als Journalist und Chefredakteur („Der Sonntag“) und ist heute freier Autor. Im vorigen Jahr erschien sein Buch „Wir sind da!“ über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.

Gabriela von Seltmann wurde 1971 im Südosten Polens geboren. Sie ist Multimedia-Künstlerin. Studiert hat sie in Krakau und Aix-en-Provence. Ihren Ehemann Uwe lernte sie bei der Suche nach den Wurzeln ihrer Familie kennen. Ihr Großvater kam im KZ um, sein Großvater war SS-Mann: Darum geht es in ihrem gemeinsamen Buch „Todleben“.

Über Lemberg und Krakau nach Hamburg

Asia Fruman ist Autorin und Musikerin. Uwe von Seltmann hat sie bei der Arbeit an seinem Buch „Es brennt“ über Mordechai Gebirtig, den Vater des jiddischen Liedes, in Charkiv kennen gelernt. „Ohne sie hätte ich das Buch nicht schreiben können.“ Charkiv ist eine der Städte, die von Russland zuerst bombardiert wurden. Sie wohnten in einem zehngeschossigen Haus, verschanzten sich nachts im Badezimmer, dem einzigen Raum ohne Außenwände. Der bettlägerige Vater schaffte den Weg in den Keller nicht mehr. „Irgendwann kam ein Foto aus dem Zugabteil.“ Über Lemberg reisten Asia Fruman und ihre Eltern nach Krakau, von dort wird es nach Hamburg weitergehen. „Das ganze Jiddischland hat gejubelt.“

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Tarnnetze und Spione in den Kapaten

Anna und ihre Familie leben in einem Bergdorf in den Ostkarpaten, Gabi von Seltmanns Mutter kommt von dort. Sie haben dort schon Männer gesehen, die sie als Spione und Saboteure bezeichnen: Sie markieren die Orte, die später von den russischen Bomben getroffen werden sollen. Die Frauen dort knüpfen Tarnnetze. Bauen Molotow-Cocktails. „Und kochen und kochen und kochen.“ Denn die Läden sind leer.

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Begegnungen in Warschau: Suppe und Sandwiches

Uwe und Gabriela von Seltmann wohnen in Warschau. Neulich war er zum Schreiben im Park. „Ich war der einzige Mann unter 80. Sonst fast nur ukrainische Frauen und ihre Kinder.“ Die Stadt ist voll. Zwei Millionen Menschen leben dort normalerweise, in den letzten Wochen kamen 300.000 dazu. Krakau, die erste große Stadt hinter der ukrainischen Grenze, hat bis jetzt 30.000 aufgenommen. Ganz Polen 2,5 Millionen, das sind über sechs Prozent mehr Einwohner. Gabi von Seltmann erzählt, wie die Menschen Suppe und Sandwiches an den Bahnhof bringen, wo die Geflüchteten ankommen. Niemand tauscht hier ihre Grwina in Zloty um. Manche bringen Katzen und Hunde mit, weil sie ihre Haustiere nicht unversorgt zurücklassen wollen.

Tränen in der Nacht: Das Trauma des Krieges

Es ist diese Hilfsbereitschaft der Menschen, die Gabi von Seltmann mit ihrem Land versöhnt, das von einem rechtspopulistischen Regime regiert wird. „Es ist unsere Hoffnung, dass sich daraus etwas Positives für die Zukunft entwickeln wird“, sagt ihr Ehemann. „Ich hatte mich geschämt für mein Land“, sagt Gabi von Seltmann, „jetzt bin ich überrascht.“

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Ihr Thema sind die Traumata der Geflüchteten, vor allem der Kinder, die ihre Häuser brennen sahen und ihre Väter zurücklassen mussten. Wer Geflüchtete bei sich zu Hause aufnimmt, erlebt Menschen, die die Wohnung nicht verlassen wollen, nachts weinen, deprimiert sind. Für sie möchte die Künstlerin Therapeuten aus aller Welt gewinnen, dazu bereiten sie und ihre Mitstreiter eine große Spendenaktion vor. Denn sie weiß, wie lange die Heilung braucht. „Mehrere Generationen werden verletzt sein.“ Polen, ihr Land, hat die Verletzungen aus dem zweiten Weltkrieg nie bewältigt. Auch darum, glaubt Gabi von Seltmann, ist es so, wie es jetzt ist.

Der Grüne aus Siegen: „Nie wieder“

Uwe von Seltmann ist 1964 geboren, Johannes Remmel 1962. Der Grünen-Politiker aus Siegen ist Landtagsabgeordneter, war Minister, ist nun europapolitischer Sprecher seine Fraktion. Der Krieg, sagt er, „hat mich in meinen politischen Grundlagen erschüttert“. Auch seine Eltern sind Kinder des – deutschen – Krieges. „Da werden Wunden geschlagen, die noch Generationen beschäftigen werden.“

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Seine Generation ist die, die für das „Nie wieder“ auf die Straße gegangen ist. Nie wieder Faschismus. Der aber, sagt Remmel, sei nun wieder da. „Lupenreiner Faschismus“ des Gewaltherrschers Putin. „Wenn wir das mit dem Nie wieder ernst nehmen...“ – Johannes Remmel ist für entschiedene Konsequenzen, zu denen zwar auch viele Windräder gehören, die russisches Gas ersetzen. Aber genauso Verzicht und Opfer. „Ich rede nicht für die Grünen, ich rede für mich.“

Tod in Lemberg

Der Abend bei den Hilchenbacher Grünen geht nicht nur mit Hoffnung und Tatendrang zu Ende. „Wir befürchten, dass auf dem Balkan das nächste Pulverfass explodiert“, sagt Uwe von Seltmann. Das Treffen eröffnet hat Hilchenbachs Grünen-Sprecher Dr. Peter Neuhaus mit einem Gedenken an Boris Dorfman. Er ist am 23. März 2022 in Lemberg gestorben, einen Monat nach Putins Kriegseröffnung und zwei Monate vor seinem 99. Geburtstag. Ein Mensch.

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