Hilchenbach. . Uwe von Seltmann bringt seinen Film über einen Juden aus Lemberg ins Viktoria-Kino mit. Von Müsen in die jiddische Welt – und irritiert zurück.

  • Uwe von Seltmann stellt „Boris Dorfman: A mentsh“ heute im Viktoria-Kino vor
  • Noch wohnt der Autor mit seiner Frau in Krakau. Polen, sagt er aber, bietet keine Perspektive mehr
  • Nach der Bundestagswahl: „Jetzt erst recht weitermachen, für Demokratie kämpfen“

Der Film hat eine weite Reise hinter sich, wurde seit 2014 in Warschau und Jerusalem, Pittsburgh und Tel Aviv, Sydney und Chemnitz gezeigt, von der Solem-Alechem-Stiftung mit dem Yiddish Oscar ausgezeichnet. Heute, am Mittwoch, kommt der Dokumentarfilm über Boris Dorfman, den inzwischen 94 Jahre alten Lemberger, den letzten in seiner Stadt der Jiddisch als Muttersprache spricht, auf die Leinwand des Viktoria-Kinos in Dahlbruch. Auf Jiddisch, mit deutschen Untertiteln. Na und? Eine Annäherung in drei Schritten.

1. Annäherung: Der Müsener

Es geht nicht nur um Tod, sondern auch um Leben.

Uwe von Seltmann, der Autor und Regisseur, ist Müsener. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt einmal in meinen Leben hier in Dahlbruch bei einer Pressekonferenz auf der anderen Seite sitzen würde“, sagt der 53-jährige Theologe, der bereits ein Berufsleben als Journalist hinter sich hat. Denn so ganz selbstverständlich ist der große Bahnhof im Viktoria nicht. Uwe von Seltmann sagt, dass Jiddisch bei jungen Menschen inzwischen „hip, trendy und fancy“ ist. Aber in Wirklichkeit geht es ihm um alles andere als Folklore — auch wenn er die Sprache der (ost)europäischen Juden als Jugendlicher bei den Folk Nights im Ferndorfer OT-Heim kennengelernt hat.

Andreas Bolduan, Ulrich Bensberg (Müsen), Jochen Manderbach(Viktoria, von links) und Alon Sander (rechts) begrüßen Uwe von Seltmann.
Andreas Bolduan, Ulrich Bensberg (Müsen), Jochen Manderbach(Viktoria, von links) und Alon Sander (rechts) begrüßen Uwe von Seltmann. © Steffen Schw

Von Seltmann hat über deutsche Geschichte geschrieben, einen Roman über das Judenhaus in Merklinghausen, unschwer als Müsen zu erkennen, und den Kriegsverbrecher Frick, natürlich Flick, nach dem das Kreuztaler Gymnasium benannt war, an dem er Abi gemacht hat. Und dann „Todleben“, die Geschichte der eigenen Familie und der seiner Ehefrau Gabriela: Der Großvater des Deutschen war ein SS-Mann, der Juden ermordet hat, der Großvater der Polin wurde in Majdanek ermordet —auch diese Spurensuche kam nicht überall, weder hüben noch drüben, gut an. Uwe von Seltmann nimmt den Buchtitel wörtlich. „Es geht nicht nur um Tod, sondern auch um Leben.“ Punkt.

2. Annäherung: Die Politik

Jetzt erst recht weitermachen, für Demokratie kämpfen.

Uwe von Seltmann kommt gerade aus Krakau. Früher hat er erzählt, dass er dort wohnt. Jetzt sagt er, dass er dort „noch“ einen Wohnsitz hat, neben Müsen. Das Ehepaar ist im Aufbruch, „auf dem Weg zu neuen Ufern“. Wohin? Umzüge sind für „Gabi i Uwe“ — der polnische Titel von „Todleben“ — keine große Sache mehr. Derzeit ist es Kroatien, wo er an einem Buch über den jiddischen Dichter Mordechai Gebirtig (1877-1942) arbeitet, zweiter Teil einer jiddischen Trilogie, die längst vollendet wäre, wenn Finanziers nicht abgesprungen und 2014 nicht Krieg um den Gazastreifen geführt worden wäre — eine andere Geschichte.

Filmabend im Viktoria-Kino

Boris Dorfman: A Mentsh wird am Mittwoch, 27. September, 19.30 Uhr im Viktoria-Kino gezeigt. Uwe von Seltmann gibt eine Einführung, anschließend gibt es die Möglichkeit zur Diskussion. Mitveranstalter sind die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der Bürgerverein Müsen und die Stadt Hilchenbach.

Warum nicht mehr Krakau? „Jüdisches zählt nicht mehr als polnisches Kulturerbe“, sagt von Seltmann, „da habe ich mit meinem Projekt keine Zukunft mehr.“ Das Urteil ist hoffnungslos: Für Menschen wie Uwe und Gabriella, nichtkatholisch beziehungsweise auch noch nichtpolnisch, hat dieses veränderte Polen keinen Platz mehr. Und jetzt Deutschland, mit einer Partei im Bundestag, deren Sprecher den gegen die Juden gerichteten Goebbels-Fluch („Wir werden sie jagen“) auf die Kanzlerin anwendet? „Das zeigt, welche ­Herausforderung uns bevorsteht“, wirft Alon Sander ein, Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit.

Uwe von Seltmann: „Das Gefühl kommt auf, dass das, was wir seit 20 Jahren machen, ein Stück weit für die Katz war.“ Aber nur für einen Moment. Man müsse „jetzt erst recht weitermachen, für Demokratie kämpfen“, sagt er, „aus Daffke.“ Das ist Jiddisch und heißt Trotz. Ja, sagt Alon Sander. Die jiddische Sprache geht sehr tief. Sie ist aber auch, wie er sagt, „sehr saftig“. was den jiddischen Witz fördert.

3. Annäherung: Jiddisch

Es war doch nicht alles für die Katz.

Eigentlich sei das kein reines Jiddisch, was er sich da beigebracht habe, sagt Uwe von Seltmann, wenn er wieder einmal zwischen den Sprachen gesprungen ist, eher „deutschmerisch“. So heißt das deutsch gefärbte Jiddisch. Dass das jeder versteht, ist kein Wunder. Zocken, zoffen, Gauner, Techtelmechtel, schmusen... Die Reihe jiddischer Wörter im deutschen Wortschatz ist verlängerbar. „A mentsh“ übersetzt sich nicht so ohne weiteres mit „Ein Mensch“. „A mentsh“ ist Ausdruck größter Wertschätzung, ihn verbindet von Seltmann mit Boris Dorfman, den er mit der Kamera zu den Spuren jüdischen Lebens in Lemberg begleitet hat.

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„Der Geschichte ein Gesicht geben“, auch das gelingt mit diesem Projekt, das die Müsener auch deshalb gern aufgreifen. „Wir wollen Brücken schlagen“, sagt Andreas Bolduan von der Müsener Dorfgemeinschaft. So wie schon bei der ersten Lesung aus „Todleben“ in diesem Jahr. Da hätten sich noch Tage danach Müsener bei ihm gemeldet, als er zu Besuch bei den Eltern war, berichtet Uwe von Seltmann. „Da habe ich gedacht: Es war doch nicht alles für die Katz.“

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