Müsen.
Es sind kleine Details, mit denen Uwe von Seltmann verrät, dass die Sprache seiner Müsener Jugend nicht mehr die ist, die seinen Alltag bestimmt. Der 49-jährige Müsener, der mit Ehefrau Gabriella in Krakau lebt, springt zwischen Polnisch und Englisch, Deutsch — und Jiddisch. Gerade hat der Buchautor und (Print-)Journalist seinen ersten Film fertiggestellt. Den ersten in Deutschland produzierten Film seit Jahrzehnten in jiddischer Sprache. Wie er damit ankam, als Deutscher in Tel Aviv? Gar nicht. Bauch, Brille, Bart, hohe Stirn: „Die meisten haben mich für einen amerikanischen Juden gehalten.“
Familiengeschichten
„Der Mentsh“ heißt sein Film einfach. Der Held ist Boris Dorfman, 91 Jahre alt mittlerweile, bis vor kurzem in Lemberg Stadtführer zu dem Erbe der jüdischen Geschichte der einstigen Hauptstadt Galiziens, der letzte jiddische Muttersprachler der Stadt. Kennen gelernt haben sie sich 2001, als von Seltmann begann, die ersten Studienreisen nach Galizien und in die Bukowina zu organisieren und zu leiten. „Für den Film musste die Zeit einfach reif sein“, sagt Uwe von Seltmann und meint damit ganz Persönliches: „Wir mussten erst einmal unsere ganzen Familiengeschichten klären.“ Zu denen nämlich gehört, dass Gabriella von Seltmann einen Großvater hatte, der 1944 im KZ Majdanek ermordet wurde. Und dass Uwe von Seltmanns Großvater als SS-Mann an der Ermordung von Juden beteiligt war.
„Todleben“
In einem Buch hat Uwe von Seltmann diese Spurensuche aufgeschrieben, 2012 ist es erschienen. „Todleben“ heißt es auf Deutsch, „Gabi i Uwe“ auf Polnisch. „In Polen hat es so etwas vorher noch nie gegeben“, berichtet von Seltmann – auch auf der Seite der Opfer belegen Familien ihre kaum erträglichen Holocaust-Schicksale mit Tabus. Während dort das Interesse groß war, hielt es sich in Deutschland in Grenzen. Hier, so beobachtet der Autor, bekommt neben der DDR-Geschichte gerade der 25. Jahrestag des Mauerfalls Konjunktur. Hier wie dort, „im Siegerland wie in den polnischen Beskiden“, habe er aber auch ausgesprochene Ablehnung erfahren. „Da wurden Dinge gesagt, die man vor ein paar Jahren noch nicht gesagt hätte“, überlegt Uwe von Seltmann. „Mit dem Blick von außen merke ich schon, dass Deutschland sich sehr verändert hat.“
Folk und Flick
Am Ende von „Todleben“ offenbart Uwe von Seltmann, was das gewesen sein könnte, das ihn von Kindheit an zum Judentum hingezogen hat: die Großmutter mütterlicherseits mit einem Familiennamen, der tatsächlich zu einem jüdischen, verleugneten Zweig führt: „Bet denne hadde m’r nix zom doa.“ Mit denen hatten wir nichts zu tun. So macht sich Uwe von Seltmann seinen Reim darauf, warum es schon in seinem ersten Roman („Karlebachs Vermächtnis“) um das Judenhaus in Merklinghausen, unschwer verfremdet: Müsen, und den Kriegsverbrecher „Frick“ gehen musste.
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Es versteht sich, dass er froh ist, dass seine alte Schule nicht mehr nach Friedrich Flick benannt ist: „Das habe ich mit großer Anteilnahme verfolgt.“ Und es erklärt, warum ihm die jiddischen Lieder von Espe und Zupfgeigenhansel so gut gefielen, die er als Jugendlicher bei den Ferndorfer Folk Nights kennenlernte. Jiddisch, sagt Uwe von Seltmann, der als studierter evangelischer Theologe auch Hebräisch gelernt hat: „So poetisch, so tiefsinnig, sehr warm, sehr emotional, sehr tiefsinnig. Es war eine internationale Sprache.“ Sagt er. „Sie ist es immer noch.“ Setzt er hinzu.
„Der Mentsh“
„Der Mentsh“: Gezeigt wurde der Film in Tel Aviv, in Jerusalem, als Sneak Preview in Berlin, in Krakau. Die Weltpremiere, „so hoffen wir“, könnte im September beim internationalen Filmfestival in Toronto sein. Dann soll es weitergehen. Uwe von Seltmann denkt an eine Trilogie, indem er dem Porträt von Boris Dorfman Porträts jiddischen Lebens in Tel Aviv und New York folgen lässt. Ob und wann das gelingt, ist eine Geldfrage. Wie vor zwei Jahren, als er auf einem Festival den Kameramann und den Tonmann für dem „Mentsh“ kennenlernte, selbst die Rolle des Autors, Regisseurs und Produzenten übernahm und die deutsch-polnische Produktionsfirma „Apfelstrudel Media“ mitgründete: „Wir sind mit 0 Cent gestartet. Und wir starten auch jetzt wieder mit 0 Cent“, sagt er, „kann sein, dass ich relativ kurzfristig wieder irgendeinen Redakteursjob machen muss.“ Nicht für lange, hofft er.
Lemberg und grüne Männchen
„Der Mentsh“: In Lemberg wurde der Film natürlich auch gezeigt, zu Boris Dorfmans 91. Geburtstag. „Diese wunderschöne Stadt“, sagt Uwe von Seltmann. Sie gehörte zu Deutschland, zu Polen, zu Österreich, zur Sowjetunion. Heute heißt die Stadt Lwiw und ist Teil der Ukraine. Viele dort, berichtet er, haben Freunde und Verwandte im Osten. „Sobald man nachfragt, ist die Angst zu spüren.“ Sie nennen sie die „grünen Männchen“. Die offenkundig russischen Soldaten, die keine Hoheitsabzeichen tragen.
„Über die Putin-Versteher in Deutschland habe ich mich wochenlang fürchterlich aufgeregt“, sagt Uwe von Seltmann und warnt davor, dass der russische Staatschef die Fußball-WM ausnutzen wird, soweit die Weltöffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit nicht sowieso auf den Irak konzentriert. „Ich befürchte, dass dann nicht wahrgenommen wird, was in der Ost-Ukraine geschieht.“ Sagt er. Und weiß wohl, dass er auf die andere, knapp 80 Jahre entfernt Geschichte anspielt, bei der die Welt auch weggesehen hat.