Netphen. Für die Grundschüler in Niedernetphen geht es wieder in den Alltag, für die Lehrerinnen Brigitte Motz und Erica Pollmann beginnt der Abschied.

Niedernetphen ist bereit für den ersten Schultag für alle. Eigene Eingänge, eigene Toiletten, eigene Schulhofbereiche für jede Klasse. Einbahnstraßen, wie man sie überall kennt. Und Durchzug. Darauf legt Rektorin Annette Kramps besonderen Wert. „Ich werde meiner vierten Klasse die letzten Schultage so schön wie möglich gestalten“, sagt Klassenlehrerin Brigitte Motz.

Denn nach der letzten Stunde am 26. Juni beginnt ihr Ruhestand. Und der ihrer Kollegin Erica Pollmann. Die Wege beider Lehrerinnen haben sich schon früh, in der Ausbildung, zum ersten Mal gekreuzt. Und immer wieder getrennt. Bevor jetzt für sie zur gleichen Zeit ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

Erica Pollmann ist schon seit Mitte März so gut wie draußen – in Netphen unterrichtet sie nur noch ein paar Stunden Musik, seit sie 2012 Vorsitzende des Personalrats für die Grundschulen im Kreis wurde. Brigitte Motz ist schon seit einiger Zeit wieder da, die 4. Klassen durften ja als erste zurückkommen. Einzeltische, Frontalunterricht. Das und die von außen vermittelte Angst zeigt Wirkung. „Man muss die Kinder erst mal wieder ein bisschen lockern – die trauen sich ja gar nichts mehr.“ Ab Montag haben sie wieder Tischnachbarn. „Aber die Oma dürfen sie nicht in den Arm nehmen“, stellt Annette Kramps fest. Selbst Erwachsene verstehen nicht alles.

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Lebensläufe oder: Rheinländerinnen in Netphen

Sie sind beide Rheinländerinnen, beide derselbe Jahrgang. Erica Pollmann aus Wachtberg-Ließem bei Bonn, Brigitte Motz aus Troisdorf. Beide haben an der PH in Bonn studiert, beide ihr Referendariat in der Fremde gemacht. Erica Pollmann hatte die Gegend schon mal kennengelernt, sie wollte ins Siegerland. Bei Brigitte Motz war es – na ja, halt Liebe auf den zweiten Blick. Am Ende der Ausbildung waren sie zwei arbeitslose Lehrerinnen, ein Schicksal der frühen 1980er Jahre. Familienzeit. Erica Pollmann stieg 1990 wieder ein, erst in Bergneustadt, dann in Hainchen, seit 1996 in Niedernetphen. Brigitte Motz ging 1994 nach Dielfen und landete ebenfalls 1996 in Netphen. Vor 24 Jahren.

Laufbahnen

Erica Pollmann war 1980 bis 1982 Referendarin an der Grundschule Niedernetphen. 1990 kam sie an due Grundschule Bergneustadt, 1993 nach Hainchen und 1996 wieder nach Niedernetphen.

Brigitte Motz war von 1981 bis 1983 Referendarin in Gerlingen, ab 1994 in Niederdielfen und ab 1996 in Niedernetphen.

Das mit dem Beruf liegt bei beiden irgendwie im Blut. Erica Pollmanns Vater war Lehrer, „meine beiden Töchter sind es auch“. Die Mutter von Brigitte Motz war Lehrerin, der Opa Rektor, eine der Töchter ist auch Lehrerin geworden.

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Veränderungen oder: Freude und Leistungsdruck

Ja, sagen sie, Schule hat sich verändert, gerade wird sie digital. „Die Kinder brauchen uns als Vorbild“, wendet Brigitte Motz ein, „das kann kein Computer ersetzen.“ Erica Pollmann gibt zu, dass sie gern führt, Kinder stützt und der unbegrenzten Freiheit, nach Lust und Laune dies oder das zu lernen, ein wenig misstraut: „Manche Entwicklung habe ich kritisch gesehen."

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Inzwischen, so beobachtet Brigitte Motz, schlägt das Pendel in eine andere Richtung: „Wir haben den Kindern das ABC mit allen Sinnen beigebracht“, erzählt sie, zum Beispiel Buchstaben mit Weizenkörnern gelegt oder mit Figuren nachgestellt. Heute gibt es dafür im Zweifel ein Arbeitsblatt. „Die Ansprüche an die Kinder sind größer geworden.“ Ja, bestätigt Erica Pollmann, „Kinder müssen an selbstständiges Arbeiten herangeführt werden.“ Aber das kann auch als Druck empfunden werden, stellt Rektorin Annette Kramps fest. Die Eskalationen kommen, wenn die Empfehlung für eine weiterführende Schule ansteht. Am schwierigsten sei es, wenn Eltern und Lehrer von einem Kind ein völlig unterschiedliches Bild haben, sagt Erica Pollmann. „Da haben in den letzten Wochen manche dazugelernt.“ Homeschooling ist auch in dieser Richtung erbarmungslos.

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Herausforderungen oder: Deutsch lernen mit Karneval

Zu den großen Herausforderungen gehörten in den Laufbahnen beider Lehrerinnen die Kriege und ihre Folgen – geflüchtete Familien, deren Kinder in ihre Klassen kamen. „Hierhin kamen Kinder, die Schreckliches erlebt haben“, erinnert Erica Pollmann. „Ich hatte eine Zeit lang acht Kinder, die kein Wort Deutsch konnten.“ Die Mitschüler bewährten sich als gute Nachhilfelehrer. Und der Karneval: „Wir haben wunderbar gefeiert. Das Trömmelchen-Lied konnten sie am Ende alle“, erzählt Brigitte Motz. Rheinländerinnen.

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Der Abschied und: Was wird aus Paul?

Beide hören mit 63 auf, wollen Zeit für die Familie haben, Brigitte Motz will noch etwas mit ihrer Coaching-Fortbildung anfangen. Schon bei der Verabschiedung werden sie Abstand halten müssen. Und sollte Brigitte Motz die Geschichte aus ihrer eigenen Schulzeit erzählen, werden sie merken, wie viel Zeit vergangen ist. Seit damals, als der Lehrer noch mit dem Stock schlug, weil Brigitte den schönen roten Schulranzen ihrer Freundin auf dem Heimweg in den Bach geworfen hat. „Wir waren neidisch.“

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Der Ausstieg kommt abrupt. Kein Schulkonzert mehr, kein Musical. „Ich hatte noch so viele schöne Ideen“, gesteht Erica Pollmann und bedauert den Lockdown: „Ich fühlte mich so ein bisschen aus dem Leben gerissen.“ Die Sitzecke, in der sonst das Schülerparlament tagt (Brigitte Motz: „Das ist mein Kind“), ist leer. Fast. Paul, der riesengroße Plüschbär von der Losbude, hat hier Platz genommen – alle Klassen von Brigitte Motz hat er begleitet. „Für die Kinder wäre es eine große Beruhigung, wenn er hier bliebe.“ Dann können sie ihn besuchen, wenn sie noch einmal Heimweh nach ihrer Grundschule haben. Und die pensionierten Lehrerinnen auch.

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