Weidenau. Die ersten drei Lebensjahre sind wesentlich für die gesamte Entwicklung des Menschen. Warum, erklärt Psychoanalytiker Heribert Kellnhofer.

Die Bedeutung der ersten Lebensjahre rückt der Lions Club Siegen-Krönchen in einer Zusammenarbeit mit dem Berufskolleg Allgemeingewerbe, Hauswirtschaft und Sozialpädagogik (AHS) des Kreises Siegen-Wittgenstein in den Mittelpunkt. Bei jährlichen Fortbildungstagen sollen angehende Erzieherinnen und Erzieher für besondere Bedürfnisse der Kinder sensibilisiert werden. Am Mittwoch unterschrieben Lions und Berufskolleg einen Kooperationsvertrag, um das Projekt dauerhaft zu sichern. Florian Adam sprach mit Heribert Kellnhofer, Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker und Lions-Mitglied.

Die Lions Clubs haben bereits Programme für Jugendliche, Grundschul- und Kindergartenkinder. Ihr Club setzt mit der Kooperation mit dem AHS nun noch früher an – bei den Ein- bis Dreijährigen. Wieso?

Ich habe als Kinder- und Jugendtherapeut sehr früh begriffen, wie wichtig die ganz frühe Kindheit ist: Für die Entwicklung, für die Bindungsfähigkeit, für die Individuation. 2016 haben wir dann gesagt: Wir gründen einen Lions Club mit Fokus auch auf die frühe Kindheit, auf die Chancen und Risiken, denen in dieser Zeit Kinder ausgesetzt sind. Uns ging es auch um die Wertschätzung der Menschen, die in dieser Phase Einfluss auf die Kinder nehmen. Dies geschieht leider in unserer Gesellschaft zu wenig.

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Inwiefern zu wenig?

Für diese frühe Phase von ein bis drei Jahren werden Erzieherinnen nicht ausreichend sensibilisiert. Und sie erfahren auch nicht die Wertschätzung, die für diese Arbeit angemessen wäre. Unser Club unterstützte meine Idee: ein Modell, mit dem wir nicht erst im Kindergarten mit unseren Unterstützungsangeboten anfangen, sondern damit schon in die Ausbildung gehen. Mit der AHS setzen wir das bereits im vierten Jahr um. Wir laden sehr renommierte Referentinnen und Referenten ein. Morgens gibt es einen Vortrag, dann Workshops mit den angehenden Erzieherinnen und Erziehern und auch den Mitarbeitern der örtlichen Kitas, in den Jahren 2018,19 und 20 mit Schwerpunkt auf den ersten drei Jahren, der Zeit, wo Beziehung beginnt und das Selbst des Kindes sich entwickelt.

Warum stellt diese Phase besondere Anforderungen?

Nach dem ersten Lebensjahr ist eine Bindung zwischen Kind und Eltern entstanden. Das muss in die Kita übertragen werden. Dies stellt höchste Ansprüche an das Kita-Personal, es muss die Beziehung zu den Eltern präsent halten, ohne sich selbst als besserer Elternteil dazwischen zu drängen. Das ist ein emotionaler Spagat.

Können Sie das präzisieren?

Das Kind kann den wichtigen Ablöseprozess nur von einer festen Bindungsposition aus vollziehen. Es muss sich von den Eltern trennen, ein Selbst entwickeln – ohne sich von ihnen verlassen zu fühlen. Bis zum dritten Lebensjahr hat das Kind dann eine Objektrepräsentanz in sich geschaffen ein inneres Bild der Bezugspersonen, die es in der Ablösung begleitend mitnimmt.

… also ein Bild der Eltern, durch das das Kind weiß, dass Mama und Papa auch noch existieren, wenn sie nicht in der Nähe sind?

Genau. Das Kind kann dann von Vater und Mutter besser getrennt sein. Aber in der frühen Phase zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr entsteht zunächst das Selbst des Kindes. Das entwickelt sich durch die Spiegelung und Resonanz seiner Eltern. In der Kita begleiten die Erzieherinnen diesen Prozess.

Die Eltern sind aber – logischerweise – in der Kita nicht physisch anwesend. Wie soll die Erzieherin das kompensieren?

Indem sie das Bild der Mutter präsent hält. Wenn das Kind beispielsweise etwas Tolles gemacht hat, könnte sie sagen: „Darüber würde sich die Mama aber jetzt freuen“. Oder, indem sie Regeln der Eltern aufgreift: Wenn das Kind zum Beispiel zu Hause mit dem Löffel isst, sollte es in der Kita nicht mit den Händen essen; wenn es sich zu Hause die Schuhe selbst anzieht, sollte es sie in der Kita nicht angezogen bekommen. Durch die Absprachen zwischen Eltern und Erzieherinnen und Erziehern vertreten beide Seiten gleiche Beziehungsangebote, ähnlich Oma und Mama, wodurch das Kind lernen kann, sich an den Beziehungspersonen zu orientieren und eine innere Sicherheit aufbaut. Passiert das nicht, wird das Kind verwirrt und ängstlich, entwickelt Angst vor dem „Fremden“.

Das würde voraussetzen, dass die Erzieherinnen detailliert wissen, wie die Dinge in jedem einzelnen Elternhaus geregelt sind.

Deshalb sagen alle Fachleute, dass es bis zum dritten Lebensjahr eine Eins-zu-Drei-Betreuung geben sollte. Das wird aber leider nirgendwo eingehalten. An dieses Ziel kommt die Politik nicht heran. Plätze schaffen macht noch keine Qualität in der Beziehung.

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Wie ist das Verhältnis denn in der Praxis?

Eins zu Sieben bis Eins zu Zehn.

Oh!

Genau. Wenn eine Erzieherin das bei zehn Kindern leisten soll, funktioniert es natürlich nicht. Wir gestalten deshalb auch unsere Fachtagung, weil Erzieherinnen sich häufig allein gelassen fühlen. Wir merken auch, dass sie sonst oft keine Wertschätzung erfahren – trotz ihrer schwierigen Arbeit. Die Bedeutsamkeit der ganz frühen Kindheit wird allgemein immer noch unterschätzt. Dabei ist, wenn ein Mensch in die Schule kommt, eigentlich schon alles festgelegt, sagen die Neurowissenschaftler.

Die alte Frage, ob wir aufgrund unserer Gene werden, wer wir sind – oder aufgrund der Erziehung?

In den Neurowissenschaften kann man mittlerweile nachweisen, dass sich viele Gene nicht durch Abspielen eines biologischen Programms entwickeln, sondern durch Erziehung, durch emotionale und kognitive Impulse. Im Gehirn bilden sich auf Grundlage ganz früher Erfahrungen Netzwerke aus. Jede spätere Form von Dialog und Beziehung ist geprägt von dieser ganz frühen Phase. Ich bin seit 40 Jahren Therapeut, und ich sage: Die ersten drei Jahre sind die wichtigsten im Leben eines Menschen. Und nur ein emotional gut gesichertes Kind ist in der Lage, sich auch kognitiv optimal zu entwickeln.

Armin Stöhr (links), Leiter des Berufskollegs Allgemeingewerbe, Hauswirtschaft und Sozialpädagogik, und Heribert Kellnhofer bei der Unterzeichnung des Kooperationsvertrags.
Armin Stöhr (links), Leiter des Berufskollegs Allgemeingewerbe, Hauswirtschaft und Sozialpädagogik, und Heribert Kellnhofer bei der Unterzeichnung des Kooperationsvertrags. © Berufskolleg AHS

Sind diese besonderen Anforderungen, die sehr kleine Kinder stellen, nicht ohnehin Teil der Ausbildung von Fachkräften? Immerhin steigt seit einigen Jahren der Anteil der unter Dreijährigen in den Kitas deutlich.

Das gesellschaftliche System hat sich verändert. Etwa 40 Prozent der Mütter gehen ein Jahr nach der Geburt des Kindes wieder arbeiten, nach zwei Jahren sind es rund 60 Prozent. Diese Veränderung ist zwar Thema in der Ausbildung. Ich erlebe aber, dass man zwar quantitativ Plätze geschaffen hat, dass die qualitative Umsetzung aber oft hinterherhinkt, besonders auch, weil man durch die hohen Anforderungen in der Arbeit keine Zeit und keinen Raum hat, die eigene Arbeit zu reflektieren. Die Tagung, Workshops und der Fachvortrag mit Diskussion ermöglicht dies.

Ähnliches hört man auch häufig zum Thema Inklusion.

Stimmt.

Verzeihen Sie die Offenheit: Bei einer derart komplexen Problematik, was kann da ein einzelner Tag im Jahr innerhalb Ihrer Kooperation bewirken?

Wir sensibilisieren und setzen noch einmal einen Fokus auf die Bedeutung dieser Entwicklungsphase. Wir Lions ersetzen ja nichts, wir stoßen etwas an, und das wird weitergetragen von den Erzieherinnen, die wir erreicht haben..

Sie bilden Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus?

Das ist unser Ziel.

Manche Mütter tun sich ohnehin schwer damit, ihre Einjährigen in die Kita zu geben und wieder arbeiten zu gehen. Aus Ihren Ausführungen könnte man heraushören, dass die lieber zu Hause bleiben sollen.

Nein! Genau das wollen wir nicht. Das politische System muss reagieren, es muss die Voraussetzungen schaffen, dass eine Mutter, wenn sie arbeiten gehen will, sich angenommen und unterstützt erlebt. Indem es in der guten Kita genügend gut ausgebildetes Personal gibt, das in Erziehungs- und Bildungspartnerschaften eng mit den Eltern zusammenarbeitet, kann ein Kind sich auch positiv entwickeln. Arbeitgeber und der Staat müssen hierfür alles tun, denn unsere Kinder sind die Zukunft unserer Gesellschaft.

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