Zeppenfeld/Eisern. . Kein Fernsehen, dafür die Ziege füttern: Der 85-jährige Helmut Schütz erzählt von seiner Kindheit in den 30er und 40er Jahren in Eisern.
Spielen ohne Handy und Computer, Ziegen füttern und Kartoffeln ausmachen. Was für die meisten Kinder und Jugendlichen heute unvorstellbar ist, war für die Generation von Helmut Schütz alltäglich. Schütz wurde am 10. Januar 1932 in Eisern geboren und ist dort aufgewachsen. Zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder und seinen Eltern hat er zunächst in der Eiserntalstraße, später in der Schulstraße seine Kindheit verbracht. Die war geprägt von Pflichten in Haushalt und Landwirtschaft.
Pflichten
„Man musste viel arbeiten“, sagt Schütz. Sein Vater war Bergmann. Als Schütz zwölf Jahre alt war, starb sein Vater an Staublunge. „Da mein Vater nicht mehr lebte und die Großmutter noch bei uns war und meine Mutter wenig Geld hatte, mussten wir im Haushalt helfen. Wir haben draußen Holz gemacht, ich musste zu Hause bleiben und kochen, einkaufen...“ Schütz kümmerte sich auch um die Ziege, die es in vielen Haushalten gab, um die Besitzer mit Milch zu versorgen. Außerdem mussten die Kinder die Wiese mit einer Sense mähen – wenn es im Sommer heiß war, schon früh morgens vor der Schule.
Die Familie Schütz besaß ein Feld mit Kartoffeln, dass sie ständig bearbeitete, damit sie im Herbst etwas zu essen hatte. „Wir waren arm“, sagt Schütz. „Meine Mutter musste immer fragen, ob uns jemand mit einem Wagen die Kartoffeln vom Feld holen kann.“ Sonst musste die Arbeit zu Fuß erledigt werden: Mit einer kleinen Karre wurden die Kartoffeln nach Hause gefahren.
Mit 14 Jahren beginnt die Ausbildung
Mit 14 Jahren hatte Schütz den Schulabschluss der Volksschule in der Tasche und begann am 1. Oktober 1946 bei der Firma Stoffel in Siegen eine Lehre als kaufmännischer Angestellter. Das Lager der ehemaligen Siemag zog zur Geschäftsstelle in der Sandstraße um. „Das Haus war komplett zerbombt“, erzählt Schütz. „Und was war? Von wegen kaufmännische Lehre: Ich musste in Arbeitskleidung kommen und aufbauen helfen.“
Ein Jahr lang transportierte Schütz Steine und richtete seinem Chef die Heizung ein. „Ich habe alles mit einem zweirädrigen Karren von Eiserfeld nach Siegen in die Sandstraße gefahren. Morgens wurde aufgeladen und dann ging es hin und her den ganzen Tag, bestimmt zwei Wochen lang. Das sollte heute mal einer machen.“ Erst nach eineinhalb Jahren ging die Büroarbeit los.
Freizeit
„Es gab keinen Fernseher, kein Handy, keine Kindergärten. Man war auf sich selbst gestellt, aber die Kindheit war schön und angenehm“, erzählt der heute 85-Jährige. Sowohl Jungen als auch Mädchen spielten damals mit Puppen oder einem geschnitzten Pferd. „Und dann ging’s in den Wald und auf die Wiese.“ Dort hatten die Kinder Verstecke, zum Beispiel im Steinbruch oder in alten Höhlen.
Freunde wohnten alle in der Nachbarschaft. „Man ging praktisch in jedes Haus, die Türen waren offen. Man brauchte sich nicht anzumelden oder so“, erzählt Schütz. Sorgen machten sich die Eltern nicht. „Es waren immer so viele, die zusammen unterwegs waren. Das war damals eine schöne, befreite Jugend“, erinnert sich der 85-Jährige.
Spiele und öffentliche Angebote
Zusammen spielten die Kinder Räuber und Gendarm, veranstalteten Schnitzeljagden oder bauten Gewehre und Bögen aus Holz. „Man hatte auch nach dem Krieg noch den Drang, soldatisch zu spielen, weil man ja nur das kannte.“ Nach der Schule gab es Angebote im Vereinshaus oder in den Jünglingsverein (heute CVJM). Einige Kinder gingen zum Fußball, doch die Fußballer waren verschrien, nach dem Training zu trinken. „Das war verpönt und durfte bei uns nicht sein“, sagt Schütz, der streng christlich erzogen wurde.
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Während der NS-Zeit mussten die Kinder einmal in der Woche zur Hitlerjugend. „Das war für die Jugendlichen immer ein Erlebnis. Man konnte spielen, musste zusammen marschieren, wie das so üblich war um schon für das Militär vorbereitet zu werden“, erzählt Schütz. Seine Eltern standen der Hitlerjugend sehr kritisch gegenüber. „Mein Bruder und ich hatten Schwierigkeiten dorthin zu gehen, weil meine Eltern das nicht gerne sahen. Wir Kinder wussten ja nicht, was das alles bedeutet.“
Geld als ewiges Streitthema
Schütz’ Familie hatte nicht viel Geld. Das führte oft zu Streit: „Ich musste mal einen Eimer Heringe kaufen und dann kam ich wieder und es fehlte eine Mark. Das gab einen riesigen Ärger. Ich wurde beschuldigt das Geld genommen zu haben.“ Es stellte sich heraus, dass die Mark im Schnee unterm Eimer festhing.
Auch die Oberschule blieb Schütz wegen Geldmangels verwehrt: „Ich wollte gerne gehen, ich war in der Schule nicht schlecht, aber das kostete Geld, man musste andere Kleidung haben und brauchte eine Fahrkarte.“ Nicht mal die Konfirmation war umsonst. Zunächst hatte Schütz keinen Anzug. Stattdessen kaufte er mit seiner Mutter eine Knickerbocker-Hose. Ein Foto von diesem Tag hat er nicht. „Wir mussten einen halben Zentner Kartoffeln bringen, sonst durften wir nicht auf das Bild .“
Geschenke gab es selten. „An Weihnachten gab es alle Sachen, die man nicht gerne wollte“, sagt Schütz. Zum Beispiel ein Hemd, Pullover oder Strümpfe. „Das war es dann. Bücher gab es bei uns so gut wie keine.“
Der Einfluss der Kriegszeit
Als der Krieg begann, war Schütz acht Jahre alt. Er erinnert sich daran, dass ein Nachbar eine große Weltkarte an der Wand hängen hatte, an der er den Kindern erklärte, wie weit die deutsche Wehrmacht vorgedrungen war.
In der Schule hätten die Kinder wenig vom Krieg erfahren, die Lehrer seien zurückhaltend gewesen. Bei Bombenalarm wurde die Schule geräumt. „Wir wurden von zu Hause aus beschützt, damit wir davon nicht viel mitkriegen. Man hat immer nur gewartet, dass Post kam und ob die Leute noch lebten.“
Politische Zusammenhänge
Die politischen Zusammenhänge habe Schütz als Kind nicht verstanden. „Die älteren Leute wussten ja, was Sache war. Die haben gesagt: ,Wir müssen keine Angst haben, wenn die Engländer kommen. Das sind unsere Befreier.’ Das war für uns komisch. Wir haben immer gedacht, der Krieg geht für uns erfolgreich aus.“
Als Siegen angegriffen wurde, ist Schütz zusammen mit anderen zwölf- bis 13-jährigen Kindern zur Eisernhardt gelaufen. „Von dort oben konnte man das Flammenmeer in Siegen und Weidenau sehen.“ Zu Fuß liefen sie bis nach Weidenau. „Man wusste als Kind nicht, wie gefährlich das war.“ In Eisern habe überall Munition gelegen. Einmal seien zwei Kinder gestorben, weil sie mit einer Granate gespielt hatten, die explodierte. „Das war für uns ein Schock.“ Trotzdem seien sie in den Wald gegangen und hätten alte Bombensplitter gesammelt.
Hamstern nach dem Krieg
„Nach dem Krieg wurde ich mit 14 Jahren zum Hamstern weggeschickt. Es gab ja nichts zu essen.“ Mit seiner Tante fuhr er mit dem Zug nach Hessen. Zum Tausch hätten die Menschen Bett- und Leinentücher oder Silberbesteck mitgenommen und dafür zwei Pfund Mehl, ein Stück Speck oder ein paar Eier bekommen. „Fürchterlich“, sagt Schütz und schüttelt den Kopf. Er erinnert die vollen Züge. „Einmal bin ich von Gießen bis nach Dillenburg auf dem Trittbrett gefahren. Und das mit 14. Aber ich habe alles überlebt.“
Helmut Schütz
Helmut Schütz zu Vorteilen und Nachteilen von früher und heute
„Es gab immer Leute, die etwas hatten. Und man selbst hatte nichts. Da hat man sich schon gewünscht, dass man selbst etwas mehr Komfort hätte. Ich war ja auch bis zum Alter von 20 Jahren nie rausgekommen aus Eisern.
Das fing dann erst an mit meinem Freund, der ein Motorrad hatte. Da sind wir dann mittags schon mal los gedüst und nach Köln gefahren, auf den Dom geklettert und wieder nach Hause. Auf der Eisernhardt in der Gaststätte haben wir ein Glas Bier getrunken. Am nächsten Tag wusste das meine Mutter und ich bekam eine Abreibung, weil ich ein Bier getrunken hatte. Man stand unter den Fittichen seiner Eltern, bis man geheiratet hatte. Ich musste auch bis zum Schluss mein Geld abgeben, das ich verdient hab. Dass die Leute vorher gingen und eine eigene Wohnung hatten, das gab es nicht, denn der Wohnraum war sehr knapp. Da hat sich doch grundlegend alles geändert.
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Nach Köln zu fahren, an den Rhein zu gehen und die Schiffe zu sehen, das war damals der Hit. Das erste mal in den Urlaub gefahren bin ich mit 20, als ich in Neunkrichen angefangen habe. Da habe ich eine Freizeit auf Borkum mitgemacht. Das gab einen Kampf mit meiner Mutter, denn das kostete ja Geld.
Mir geht es heute gut. Seit der Zeit geht es uns so gut, wie nie zuvor. Wenn man dann heute sieht, was in der Welt passiert, dann muss man doch manchmal die Luft anhalten.“
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