Olpe. Beschäftigte der Werthmann-Werkstätten Olpe tauschen einen Tag den Arbeitsplatz mit Menschen ohne Behinderung – mit überraschenden Eindrücken.

Eva Cyprian ist heute etwas nervös. Ihren neuen Kollegen kann sie nämlich noch nicht so ganz einschätzen. Obwohl sie schon viel von ihm gelesen und gehört hat. Ihre Unsicherheit lächelt sie weg. Sie plaudern über den Job, die Aufgaben und was beide heute noch so erwartet. Small Talk. Nach ein paar Minuten legt sich die Aufregung. „Der ist ja total nett“, sagt Eva Cyprian. Die 54-Jährige ist stolz darauf, Peter Weber ihren Arbeitsplatz zeigen zu können. Dass er, der Bürgermeister von Olpe, immer wieder interessiert nachfragt. Und dass sie sich später bei ihm im Bürgermeister-Büro umschauen kann. „So cool!“ – Ein Satz, den Eva Cyprian heute noch öfter sagen wird.

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Bundesweiter Aktionstag „Schichtwechsel“

Eva Cyprian ist Beschäftigte bei der Abteilung Olpe der Werthmann-Werkstätten. Sie arbeitet am Empfang. Für einen Tag tauscht sie ihren Arbeitsplatz gegen einen Arbeitsplatz im Rathaus. Dafür kommt ein Verwaltungsmitarbeiter – in diesem Fall Peter Weber höchstpersönlich – in die Werthmann-Werkstatt. Damit beteiligen sich die Werkstätten an dem bundesweiten Aktionstag „Schichtwechsel“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM), bei dem Menschen mit Behinderungen für einen Tag ihren Arbeitsplatz mit Menschen ohne Behinderungen tauschen. Beide Seiten sollen so Arbeit und Teilhabe aus einer ganz neuen Perspektive erleben. Verständnis füreinander entwickeln. Vorurteile abbauen.

Eva Cyprian sitzt auf dem Bürgermeister-Stuhl im Rathaus Olpe.
Eva Cyprian sitzt auf dem Bürgermeister-Stuhl im Rathaus Olpe. © Britta Prasse

Von einem Moment auf den anderen änderte sich Eva Cyprians Leben. Das war 2014, als sie mit ihrer Freundin auf dem Weg zum Münchner Oktoberfest war. Auf einem Autobahnzubringer bei Frankfurt verlor sie die Kontrolle über ihr Auto. Ihre Freundin blieb bei dem schweren Unfall wie durch ein Wunder nahezu unverletzt. Eva Cyprian hatte nicht so viel Glück. Sie war so schwer verletzt, dass sie ins künstliche Koma versetzt werden musste. Kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall. „Das war ganz schlimm. Ich konnte nicht mehr gehen, sprechen oder rechnen. Alles war weg“, erzählt die 54-Jährige. Doch sie kämpfte sich zurück ins Leben. Schritt für Schritt. Bis heute sind die Folgen des Schlaganfalls spürbar. Sie hat Lähmungserscheinungen im Gesicht und in den Beinen, geht mehrmals pro Woche zur Krankengymnastik. Doch sie hat ihr neues Leben angenommen. Mehr noch: Sie ist glücklich darüber, eine zweite Chance bekommen zu haben.

Seit über 50 Jahren Teilhabe am Arbeitsleben

Die Werthmann-Werkstätten bieten seit über 50 Jahren Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit psychischen und/oder geistigen Einschränkungen – unabhängig ihrer Herkunft. In der Beruflichen Bildung „b.punkt“ werden die erforderlichen Fertigkeiten vermittelt – praktisch und theoretisch.

Im Arbeitsbereich unterstützen die Caritas-Werkstätten bei der tagtäglichen Arbeit. Ob in der Montage, im Elektro-, Holz- oder Metallbereich, in der Gartenarbeit, im Lebensmittelladen oder in der Hauswirtschaft – per Handarbeit oder mit modernen Maschinen unterstützt. Dies ist in den Werkstätten oder außerhalb in einem Betrieb möglich. Das Ziel, das dabei immer verfolgt wird: „Arbeit möglich machen“.

An den Werkstätten-Standorten in Attendorn, Lennestadt, Olpe und Welschen Ennest erfahren täglich über 670 Menschen mit Behinderungen Teilhabe am Arbeitsleben. Davon sind 50 Menschen in den hiesigen Industrieunternehmen sowie bei Dienstleistern tätig und werden regelmäßig von den Werkstätten betreut.

„Wir gucken hier nicht nach den Defiziten, sondern nach den Kompetenzen“, sagt Achim Scheckel, der die Abteilung Olpe und die Nebenstelle Welschen Ennest bei den Werthmann-Werkstätten leitet. Das Motto: „Arbeit möglich machen.“ Allerdings nicht um jeden Preis. Anders als auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt soll sich hier die Arbeit dem Menschen anpassen. So arbeitete Eva Cyprian zunächst in der Montage, bevor sie zum Empfang wechselte. Ein Arbeitsplatz, der ihr von vornherein mehr zusagte. Zumal sie hier mit dem Getränkeverkauf und der Kasse durchaus auch Aufgaben übernimmt, die sie schon vor ihrem Unfall erledigte. Bis 2014 arbeitete Eva Cyprian nämlich in dem Kiosk in Sondern. Dass sie heute daran anknüpfen kann, lässt sie wieder selbstbewusster sein. Etwas, das in Krisenzeiten überlebenswichtig sein kann.

Behinderung. Wo fängt das an? „Das hier“, Achim Scheckel schiebt seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht, „ist eine Sehbehinderung.“ Jeder habe Einschränkungen in seinem Alltag. Die einen mehr, die anderen weniger. Doch alle sind Teil der Gesellschaft. Wer den Leistungsanforderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht gerecht werden kann, kann eine Chance in den Werthmann-Werkstätten bekommen. Dabei positioniert sich Achim Scheckel klar gegen das „Versager“-Image: „Werkstatt ist kein Abstellgleis. Wir können hier mehr als Kerzenziehen und Besenbinden. Wir sind Industriepartner.“ Unternehmen aus dem gesamten Kreis – darunter EMG aus Wenden und Gebrüder Kemper aus Olpe – lassen hier Einzelteile anfertigen. Teile, die vielleicht nicht immer sichtbar sind, ohne die viele Dinge aber nicht funktionieren würden.

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„Das ist durchaus filigrane Arbeit“, meint Peter Weber, als er die Litzen begutachtet, die später an EMG ausgeliefert werden sollen. Kerstin Neuhaus führt den Bürgermeister durch die verschiedenen Bereiche in der Werkstatt. Die 57-Jährige arbeitet seit fünf Jahren hier, ist sogar in den Werkstattrat gewählt worden. Früher arbeitete sie als Altenpflegerin. Durch die Dauerbelastung im Job, den Tod ihres Mannes und den daraus resultierenden Sorgen wurde sie krank. Die Psyche streikte. In ihren alten Job konnte sie nicht wieder zurück. Umso dankbarer ist Kerstin Neuhaus, dass sie einen Platz in der Werkstatt gefunden hat. „Ich bin so froh, dass ich hier bin. Es gibt uns eine Tagesstruktur. Und wir sind alle wie eine große Familie.“ So gibt es zum Beispiel sowohl eine Frühstücks- als auch eine Mittagspause, in der sich die Beschäftigten im Speisesaal treffen und gemeinsam essen können. „Man merkt, wie wichtig dieser Ort ist“, sagt Peter Weber, als er in der Mitte des Raumes steht. „Es ist eine gute Gelegenheit, um sich auszutauschen. Ich kann mir vorstellen, dass das während des Corona-Lockdowns sehr gefehlt hat.“ Hat es. Umso glücklicher sind die Beschäftigten, dass sie hier wieder zusammenkommen können. Auch, wenn sie im Innenbereich weiterhin Maske tragen müssen.

Bürgermeister Peter Weber bedient die halbautomatische Steckermaschine.
Bürgermeister Peter Weber bedient die halbautomatische Steckermaschine. © Britta Prasse

In den Werthmann-Werkstätten in Olpe arbeiten in erster Linie Menschen, die aufgrund von psychischen Erkrankungen beeinträchtigt sind. Dazu gehören Erkrankungen, die durch Alkoholmissbrauch verursacht wurden, Depressionen, Schizophrenie, aber auch Persönlichkeitsstörungen wie Borderline. Dementsprechend sind die Werkstatt-Beschäftigten in der Regel nicht so leistungsfähig wie Arbeitnehmer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt – was sich auch in der Bezahlung ausdrückt.

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„Bei uns liegt der Fokus nicht auf dem Verdienst, sondern auf der Eingliederung. Das bedeutet aber nicht, dass es unseren Beschäftigten finanziell schlecht geht“, meint Achim Scheckel. Er verweist auf die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen, die die Werkstattbeschäftigung mit Grundsicherung einem Mindestlohn und 35-Stunden-Woche gegenübergestellt hat. Entscheidend sei, so Scheckel, die Persönlichkeitsentwicklung. „Viele, die hier anfangen, haben kein Selbstwertgefühl.“ Das werde mit der Arbeit und der damit verbundenen Wertschätzung Stück für Stück aufgebaut.

„Wenn ich sehe, wie manche am Rohling für kleinteilige Platinen fuckeln, dann ist das schon beeindruckend“, sagt Holger Rüthing, Teamleiter der Berufsberatung bei der Arbeitsagentur Olpe. Er ist heute zum ersten Mal in der Abteilung in Olpe und begleitet Martina Heinberg. Die 58-Jährige ist vor gut einem Jahr von der Werkstatt in Lüdenscheid nach Olpe gewechselt. Die Abläufe sind noch nicht so eingespielt wie an ihrem alten Arbeitsplatz; aber ihre Aufgaben in der Industriemontage machen ihr Spaß. Die Arbeit passt sich dem Menschen an.

Schichtwechsel. Eva Cyprian wird im Rathaus erwartet. Erste Station: das Bürgermeisterbüro. „Ich dachte, der Bürgermeister würde ganz oben sitzen. In dem Büro mit der besten Aussicht“, gesteht sie. Silke Albus lacht. Irgendwie hatte mal jeder diese Vorstellung. Enttäuscht ist Eva Cyprian trotzdem nicht. Im Gegenteil: Das geräumige Büro gefällt ihr. Vor allem der Lederdrehstuhl, in dem sie sich niederlässt. „Das fühlt sich cool an!“ Ein Lob gibt es auch für die Wandbilder („wie cool, da ist ja der Pannenklöpper!“) und den Schreibtisch („der ist ganz schön ordentlich“).

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Schreibtischarbeit wartet heute allerdings nicht auf Eva Cyprian. Sie darf mit Martin Hütte vom Ordnungsamt zu einem Einsatz in Neuenkleusheim fahren. Stilecht mit orange-gelber-Warnweste („wie cool!“). „Wir installieren dort ein Geschwindigkeitsdatenerfassungsgerät, um später überprüfen zu können, ob die Leute dort tatsächlich zu schnell fahren“, erklärt Martin Hütte. Der Ortsvorsteher habe im Auftrag der Eltern die Stadt kontaktiert, um gegebenenfalls einen Zebrastreifen an der L 711 einzurichten. Die Dorfbewohner sind nämlich der Auffassung, dass viele Fahrer schneller als die erlaubten 50 km/h unterwegs sind – und das, obwohl die Straße zwischen einem Spielplatz und einem Kindergarten verläuft. Eine Woche lang wird das montierte Gerät nun Daten sammeln; wie viele Autos vorbeigefahren sind, wie groß diese waren und vor allem wie schnell. „Wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass 85 Prozent der Fahrzeuge tatsächlich über 50 km/h gefahren sind, dann wäre ein Zebrastreifen durchaus sinnvoll“, so Hütte.

Eva Cyprian kniet neben dem Geschwindigkeitsdatenerfassungsgerät, das an der L 711 in Neuenkleusheim angebracht wurde.
Eva Cyprian kniet neben dem Geschwindigkeitsdatenerfassungsgerät, das an der L 711 in Neuenkleusheim angebracht wurde. © Britta Prasse

In der Arbeitsagentur war Martina Heinberg früher schon mal. Um sich arbeitslos zu melden. „Dass ich heute die ganzen Abläufe mal aus einer anderen Perspektive kennenlernen kann, ist schon interessant“, meint die 58-Jährige. Zumal die Abläufe heutzutage viel digitaler sind, als sie es damals selbst erlebt hat. „PC-Arbeit und Beratungsgespräche, darauf liegt im Wesentlichen der Fokus“, erklärt Holger Rüthing. Der Job ist viel theoretischer als Heinbergs Arbeitsplatz in der Werkstatt. Eine Tatsache, keine Bewertung. „Das Schöne ist, dass die Menschen in der Werkstatt sinnvoll beschäftigt sind und die Qualität in ihrer Arbeit sehen“, findet Rüthing. Das sei motivierend und wertschätzend.

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Mittlerweile ist es später Nachmittag. Eva Cyprian kommt von ihrer Schicht beim Ordnungsamt zurück. Die Aufregung ist der Begeisterung gewichen. „Ich saß auf dem Bürgermeister-Stuhl und bin mit dem Ordnungsamt rausgefahren. So cool!“, erzählt sie Achim Scheckel. Sie ist froh, dabei gewesen zu sein. Einen kleinen Beitrag geleistet zu haben, dass Werkstatt keine Einbahnstraße bedeutet, sondern dass Menschen eine faire Chance zur Teilhabe am Arbeitsleben und an der Gesellschaft bekommen.

>>> SO HOCH IST DAS ENTGELT

Das Werkstattentgelt setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Grundbetrag und Steigerungsbetrag. Lag der Grundbetrag im August 2019 noch bei mindestens 80 pro Monat, ist er aktuell auf mindestens 109 Euro pro Monat gestiegen. Ab 1. Januar 2023 wird er noch mal auf mindestens 119 Euro pro Monat angehoben. Im Gegensatz zum Grundbetrag ist der Steigerungsbetrag leistungsabhängig. Heißt: Er bemisst sich nach der individuellen Arbeitsleistung der behinderten Menschen, insbesondere unter Berücksichtigung von Arbeitsmenge. Neben dem Grund- und Steigerungsbetrag bekommen Werkstattbeschäftigte noch ein Arbeitsförderungsentgelt (AFöG). Dieses wird vom zuständigen Rehabilitationsträger zusätzlich zu den Vergütungen an die Werkstätten gezahlt. Das AFöG liegt aktuell bei 52 Euro. AFöG erhalten grundsätzlich alle Beschäftigten, unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit. Aktuell wird eine Steuerungsgruppe eingesetzt, die sich mit der bundesweiten Verbesserung des Lohnsystems für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten befasst.

Wer 20 Jahre in einer Werkstatt gearbeitet hat, hat Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente. Dabei müssen Arbeitgeber, also die Werkstattbetreiber, 80 Prozent des Durchschnittseinkommens für die Abführung ihrer Rentenbeiträge an die Deutsche Rentenversicherung überweisen. Auch das trägt dazu bei, dass die Beschäftigten nicht in die Altersarmut abrutschen.