Olpe/Grevenbrück. Katharina Beckmann und Vivien Linn haben eine Praxis in Olpe und Grevenbrück eröffnet. Sie erklären, wie Corona ein psychisches Dilemma auslöst.

Corona hat den Alltag nachträglich beeinflusst. Diese Veränderungen können Unsicherheiten oder gar Ängste auslösen. Mit diesen Herausforderungen sehen sich auch Psychotherapeuten konfrontiert. Katharina Beckmann hat im Januar ihre Psychotherapiepraxis in Olpe eröffnet, ihre Kollegin Vivien Linn hat sich im vergangenen Sommer mit ihrer Praxis in Grevenbrück selbstständig gemacht. Sie erklären, warum die Pandemie auch belastend für die mentale Gesundheit ist, bei welchen Warnzeichen professionelle Hilfe aufgesucht werden sollte und wie das Tabu-Thema der psychischen Erkrankungen angesprochen werden kann.

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Die Belastung

„Ein Grund ist, dass es immer wieder zu diesen Wellen kam. Mit sinkenden und steigenden Infektionszahlen, wodurch Maßnahmen gelockert und wieder beschränkt wurden. Die permanenten Veränderungen haben den Alltag massiv beeinträchtigt“, meint Vivien Linn. Vor allem gebe es ein psychisches Dilemma. „Die Menschen haben Angst vor der eigenen Infektion, sodass Kontakte beschränkt werden. Gleichzeitig ist es ein urmenschliches Bedürfnis, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Abzuwägen fällt da sehr schwierig.“ Es fehlt an Orientierung, an Kontrolle, an Sicherheit. Und das werde mit neu entdeckten Virusvarianten weiter getriggert.

Auch wenn Existenzängste im Vergleich zum Anfang der Pandemie, als sich deutlich mehr Menschen in Kurzarbeit befanden, nachgelassen haben, ist die Belastung im häuslichen Umfeld geblieben. PCR-Pooltests, die positiv ausfallen, Nachtestungen, Homeschooling oder Kita-Kinder, die in Quarantäne bleiben müssen, bringen viel Ungewissheit mit sich. Ihr Tipp, wie sich – zumindest ein Stück weit – das Gefühl der Kontrolle wieder einstellt: Informieren. „Sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und sich eine eigene Meinung zu bilden, kann Unsicherheiten abbauen“, so Linn. Trotzdem könne der Kontrollverlust nicht ganz vermieden werden. „Niemand kann verlässlich sagen, ob wir auch noch in zwei Jahren Masken in unserem Alltag tragen müssen. Deswegen geht es auch ein Stück weit um Akzeptanz. Das ist ein langer und schwieriger Prozess. Die Frage ist aber: Welche Wahl hat man sonst?“

Die Therapieplätze

Die Nachfrage nach ambulanten Therapieplätzen übersteigt deutlich die Kapazität – vor allem im ländlichen Raum. In der Region warten Hilfesuchende im Schnitt zwischen ein und zwei Jahren auf einen Therapieplatz. „Man kann sich zum Beispiel an die Terminservicestelle der KVWL wenden, die einem spätestens innerhalb der nächsten vier Wochen einen ersten Sprechstundentermin zuweist“, sagt Katharina Beckmann. Bei so einem ersten Termin werde zunächst der Behandlungsbedarf geklärt und geschaut, ob eventuell auch andere Behandlungsmöglichkeiten als die ambulante Therapie in Frage kommen könnten.

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Die Wartezeit auf einen Therapieplatz kann dann unter anderem durch regionale Selbsthilfegruppen aufgefangen werden. „Man kommt in den Austausch mit anderen Betroffenen und reflektiert sich und sein Verhalten – was ein Stück weit Kontrolle gibt und auch als gute Vorbereitung für die danach folgende Therapie dienen kann.“ Auch die Beratungsstellen des Sozialpsychiatrischen Dienstes oder das Krisencafé im St.-Martinus-Hospital Olpe setzen dort an. „Wichtig: Wenn sich die Symptomatik innerhalb der Wartezeit verschlechtert und jemand akut Hilfe benötigt, dann ist es auf jeden Fall ratsam, dass sich Betroffene an eine psychiatrische Klinik wenden“, betont Beckmann.

Beckmann und Linn raten dazu, sich nicht von der langen Wartezeit abschrecken zu lassen. „Erfahrungsgemäß hilft es schon vielen Menschen eine Therapie anzufragen, weil sie wissen, dass in Zukunft etwas passieren wird. Sie fühlen sich angebunden.“

Der Bedarf

Schon vor der Pandemie hat es ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage gegeben. Die Pandemie hat das noch mal verschärft: Eine Umfrage der Deutschen Psychotherapievereinigung hat gezeigt, dass der Bedarf nach einem ambulanten Therapieplatz seit Pandemiebeginn um 40 Prozent gestiegen ist.

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Das liege an vielen verschiedenen Gründen: finanzielle Unsicherheiten, die soziale Belastung im häuslichen Umfeld oder Angst vor Ansteckung. Insgesamt könne man eine Zunahme von Depressionen und Angststörungen beobachten. Durch die Kontaktbeschränkungen fühlten sich Menschen – vor allem Alleinstehende – zunehmend einsam. Auch die Folgen von Long Covid haben Einzug in die Psychotherapiepraxen gefunden – in Form von massiven Konzentrationsschwierigkeiten, Antriebslosigkeit, Erschöpfung, Ängsten und Schlafstörungen. „Das ist für den Praxisalltag auch neu, weil man dafür Behandlungskonzepte erarbeiten muss, die darauf zugeschnitten sind“.

Die Warnzeichen

Phasen, in denen man sich träge und antriebslos fühlt, sind normal. „Aber man muss verstehen, dass Depressionen eine ernsthafte Erkrankung darstellen und über eine alltägliche Niedergeschlagenheit hinaus gehen. Betroffene haben ein deutliches Leiden, das mit einer Veränderung im Fühlen, Handeln und Denken einhergeht. Dabei sind alle Lebensbereiche betroffen“, betont Beckmann. Oft werden zunächst körperliche Symptome wahrgenommen, die nicht mit einer Depression in Verbindung gebracht werden. Zum Beispiel Magen-Darm-Beschwerden, Kopf- oder Rückenschmerzen, die erstmal mit dem Hausarzt abgeklärt werden. Bis eine angemessene Behandlung stattfindet, vergehe oft viel Zeit.

Das Tabu

Psychische Erkrankungen sind immer noch ein Tabu-Thema. „Es existiert noch ein sehr altes, stigmatisiertes Bild einer Psychotherapie“, so Beckmann. In Medien werde dieses Bild aufgegriffen und manifestiert sich. „Das ist bedauerlich, weil hier häufig der erste Kontakt mit diesem Thema stattfindet“, meint Linn. Dazu kommen generationenbedingte Glaubenssätze wie „Sowas gibt es nicht“. Dadurch könnte die Hürde, sich professionelle Hilfe zu suchen, höher werden.

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Die Kommunikation

Grundsätzlich sei es für Angehörige ratsam, ihre eigenen Sorgen zu äußern, wenn sie eine negative Veränderung an dem Betroffenen feststellen. „Menschen mit Depressionen fühlen sich oft schuldig und hilflos. Der Betroffene hat vielleicht etwas bei sich gemerkt, sieht es aber gar nicht als Erkrankung an, sondern als ein Zustand, an dem er schuld ist. Dementsprechend ordnet er es nicht als psychische Erkrankung ein“, erklärt Beckmann. Auch Angehörige psychisch erkrankter Menschen haben selbst die Möglichkeit Beratungsstellen aufzusuchen, um die eigenen Ängste oder Sorgen zu thematisieren.