Maumke. Juliana Schmidt aus Maumke wurde vom 4. bis zum 16. Lebensjahr von ihrem Vater sexuell missbraucht. Ihre Familie leugnet das bis heute.
Als ihr Vater im Sterben lag, kamen die ersten Bilder hoch. „Ich habe mich damals gefragt: ‘Woran erinnern dich diese Hände? Woran erinnert dich diese Locke, die ihm im Gesicht hängt?“, erzählt Juliana Schmidt. Sie kann es nicht einordnen. Noch nicht. Aber sie hat ein Gefühl. Das Gefühl, dass er ihr irgendwas genommen hat. Da war Juliana Schmidt 36 Jahre alt. Heute, 33 Jahre später, weiß sie, was es war. Er hat ihr die Kindheit genommen. Er hat sie sexuell missbraucht. 13 Jahre lang.
Ein Paradies, das aus Trauma-Bausteinen gebaut wurde
Juliana Schmidt wohnt mit ihrem Mann in Maumke. Hier hat sie sich ein kleines Paradies geschaffen. Ein kreatives Chaos, wie sie es nennt. Unzählige Betonfiguren thronen auf den Schränken, säumen die Wendeltreppe ins Obergeschoss oder zieren die Glasfront des Wintergartens. Das Wasser im angrenzenden Teich plätschert gleichmäßig vor sich hin. Zwischen den Rosenbüschen lugen Engel und Frösche aus Beton hervor. Es wirkt friedlich, voller Leben, ein Ort voller Entdeckungsmöglichkeiten. Doch in jeder Figur steckt Leid. In jedem Stück hat Juliana Schmidt ihr Trauma verarbeitet. Ein Trauma, das sie bis zu ihrem Lebensende begleiten wird.
Mit dreieinhalb Jahren fing es an. Da hatte sie ihr Vater zum ersten Mal missbraucht. Im Keller. Unzählige Male. „Meine Mutter und meine Geschwister mussten es mitbekommen haben“, sagt die 69-Jährige heute. Denn die neunköpfige Familie lebte auf engstem Raum zusammen. Die Betten waren teilweise nur durch Gardinenkonstruktionen voneinander getrennt. Auch da ist es passiert. „Wenn ich heute das Ratschen von Gardinen höre…“ – Juliana Schmidt bricht ab. Die Bilder sind wieder da.
Erinnerungen in den dunkelsten Ecken der Psyche verborgen
Lange war das Trauma in den Tiefen ihrer Seele verborgen. Mit 36 Jahren, als ihr Vater im Sterben lag, kamen die ersten Momentaufnahmen an die Oberfläche. Doch erst mit 44 Jahren beginnt sie zu verstehen. Schritt für Schritt. „Ich bin damals mit meinem Mann zum Therapeuten mitgegangen. Er war zu der Zeit in Behandlung wegen seiner Angstzustände. Er konnte irgendwann die Therapie beenden. Ich bin geblieben“, sagt Juliana Schmidt. Was sie und ihr Mann erst viel später verstanden haben: Seine Angstzustände wurden durch die aufbrechenden Trauma-Erfahrungen seiner Frau ausgelöst. Als sie anfing, sich mit professioneller Hilfe bis zu ihren dunkelsten Ecken ihrer Psyche vorzuarbeiten, verstand er den Ursprung seiner Angst. Die Hilflosigkeit ihr gegenüber. Weil jetzt allmählich ins Bewusstsein drang, was sie jahrzehntelang verdrängt hatte. Abgespalten hatte.
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Ihre Kunst, bis dahin ein Hobby, nahm immer mehr Raum ein. „Ich konnte nicht mehr arbeiten. Ich war unkonzentriert und hatte keine Kraft mehr. Ich wollte nicht mehr leben“, erinnert sich Juliana Schmidt. Die kaufmännische Angestellte kündigte, um mehr Zeit für ihre kreativen Arbeiten zu haben. Sie merkte, dass ihr das gut tat. Ihr gleichzeitig aber auch weh tat. „Wenn man kreativ ist, hat man einen besseren Zugang zu sich selbst. Kreativität holt aber auch das Unbewusste an die Oberfläche.“ Immer mehr Bilder, immer mehr Zusammenhänge. Und doch lässt sich bis heute nicht alles in Einklang bringen.
Dissoziative Identitätsstörung – ein Leben mit 12 Persönlichkeiten
Der Therapeut stellt bei Juliana Schmidt eine dissoziative Identitätsstörung fest. Verschiedene Persönlichkeiten leben in ihr, die abwechselnd die Kontrolle über Denken, Fühlen und Handeln übernehmen. Ein Schutzmechanismus, der oft mit frühen Missbrauchserfahrungen einhergeht. Weil das Erlebte so zerstörerisch ist, dass die Erfahrungen von der Kern-Persönlichkeit abgespalten werden. „Wenn ich mich heute an die Situationen zurückerinnere, sehe ich mich da liegen, als dritte Person“, beschreibt Juliana Schmidt.
Zeitweise lebten zwölf Persönlichkeiten in ihr. Liesel, die oft depressiv ist; Viola, „die feine Dame“; Peter, der Wütende. Juliana Schmidt nennt sie Kinder. „Die meisten von ihnen sind erwachsen geworden und haben sich in meine Persönlichkeit integriert. Es gibt aber noch zwei, drei Kinder, die weiter im Trauma leben. Die anders denken als ich. Was für mich als Erwachsene schwer ist nachzuvollziehen.“ Die Kinder hoffen, dass sie eines Tages gesund werden. Juliana Schmidt weiß, dass das nie passieren wird.
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Sie hätte gerne eigene Kinder zur Welt gebracht. Damals, als das Trauma noch nicht aufgebrochen war. Als bei ihr allerdings Mitte 20 ein bösartiger Tumor festgestellt wurde, musste ihr die Gebärmutter entfernt werden. „Mein Frauenarzt meinte damals nach der OP zu mir: ‚Mit so einer Gebärmutter hätten Sie eh keine Kinder bekommen können.‘“ Alles war kaputt.
Der lange Weg durch die Hölle
Sie und ihr Mann wollten den Kinderwunsch trotzdem nicht aufgeben – und adoptierten Tobias. „Durch ihn habe ich zum ersten Mal erfahren, wie es ist, jemanden zu lieben“, erzählt Juliana Schmidt. Da war sie schon zehn Jahre mit ihrem Mann verheiratet. „Das klingt hart, aber zum damaligen Zeitpunkt konnte ich keine Liebe empfinden. Ich mochte meinen Mann. Wir haben uns gut verstanden.“ Daraus wurde eine lebenslange Verbindung. Im nächsten Jahr feiern sie Goldene Hochzeit.
Ihr gemeinsamer Sohn Tobias ist heute 38 und lebt in den Niederlanden. Am liebsten wäre Juliana Schmidt mitgezogen. Weg von hier. Weg von dem Ort, wo alles passiert ist. Doch ihr Mann möchte in Maumke bleiben, dort, wo sie sich ihr gemeinsames Leben mit Haus und Garten aufgebaut haben. Wo das „kreative Chaos“ herrscht. Etwas, worin Juliana Schmidt jetzt auch Einblicke geben möchte. Mit einer Kunstausstellung in ihrem Garten, ihrem Paradies, das sie sich geschaffen hat. „Ich wünsche mir, dass die Leute sehen, welche Verbindung hinter den Werken steckt. Denn nur durch den langen Weg durch die Hölle sind diese Arbeiten entstanden“, sagt Juliana Schmidt.
Sie weiß, dass nicht jeder empfänglich für ihre Kunst ist. „Auch, weil ich nicht das klassische Opfer bin. Weil viele Leute nur das Haus und den Garten sehen und denken, dass es mir doch sehr gut geht.“ So wie ihre Geschwister, die bis heute den sexuellen Missbrauch in der Familie leugnen.