Kreis Olpe. Thomas F. ist drei Jahre alt, als er sexuell missbraucht wird. Der Täter ist sein Nachbar. Ein Freund der Familie. Das ist seine Geschichte.
Die Treppe führt nach oben. Ins Dachgeschoss des Hauses. Ins Schlafzimmer. Thomas F. (Name von der Redaktion geändert) erinnert sich, wie er als kleiner Junge da hochstiegen ist. Zusammen mit seinem Nachbarn. Der Mann, der auf ihn aufpassen soll, während seine Eltern arbeiten. Der Mann, der freundlich lächelt, wenn er den Kleinen abholt. Niemand ahnt, dass er sich beim Mittagsschlaf neben ihn legt. Niemand ahnt, was er mit dem Kind macht – oder etwa doch?
Thomas F. ist Anfang 50 und lebt im Kreis Olpe. Gebürtig kommt er aus Süddeutschland. Der Akademiker ist Frührentner. Bereits seit knapp fünf Jahren. Depressionen und Angstzustände haben sein Berufsleben verkürzt. Ende 20 hat er geheiratet. Heute ist er mehrfacher Vater, lebt in Scheidung. Wir treffen uns mit ihm an einem neutralen Ort. Er trägt Jeans und einen Pulli über seinem Hemd. Seine Haare sind schon fast ganz grau. Auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln, seine Augen strahlen freundlich. Nur selten wendet er den Blick ab, als er beginnt zu erzählen. Nur selten kommen ihm die Tränen.
Die Geschichte
Seine Geschichte beginnt vor knapp 50 Jahren. Mit seinen Eltern und seinen Geschwistern lebt er in Süddeutschland. Thomas F. ist der Jüngste. Er ist gerade drei Jahre alt. Die Familie hat ein kleines Häuschen. Seine Eltern sind viel mit den Umbauarbeiten beschäftigt. Ein Anbau soll her. Da bleibt eben nicht mehr viel Zeit für die Kinder. Thomas F. wird zum Nachbarn gegeben. Ein entfernter Verwandter. Ein Vertrauter. Ein Freund der Familie. Ein damals knapp 50-jähriger Mann, der mit seiner Frau zusammenlebt. Ein freundlicher Mensch, der gern auf den kleinen Jungen aufpasst. Seine Eltern haben keine Ahnung, was im Dachgeschoss des Hauses nebenan passiert. Sie haben keine Ahnung, dass ihrem jüngsten Sohn ein jahrelanges Martyrium bevorsteht.
Die Zeit danach
Thomas F. hat immer gespürt, dass da was ist. Das irgendetwas seine Seele belastet. Doch er verdrängt es. Über viele Jahre. Anfang 40 wird es schlimmer. Depressionen nehmen ihn ein, Angstzustände überkommen ihn. Selbstverletzungen, Suizidgedanken folgen. Es ist fast so, als schreie seine Seele nach Beachtung. Thomas F. wendet sich an seinen Hausarzt. Es folgen Krankenhausaufenthalte, Besuche beim Psychotherapeuten, beim Psychiater. Sogar eine Elektrokrampftherapie lässt er über sich ergehen. Nichts hilft. „Die Angst kam immer wieder“, sagt er. „Ich wusste, mit mir stimmt irgendwas nicht“.
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Doch dann beginnt er eine Trauma-Therapie. Und irgendwann – ganz plötzlich und unerwartet – ist sie da, die Erinnerung. Der Nachbar. Der Mann aus dem Haus gegenüber. Die Treppe nach oben. Das Schlafzimmer. Der Mittagsschlaf. „Mein ganzer Körper hat gekrampft, als ich diese Bilder vor Augen hatte“, erzählt Thomas F. Ab da beginnt die Aufarbeitung. Innerhalb der wochenlangen stationären und der jahrelangen ambulanten Therapie – aber auch im Gespräch mit seiner Mutter. Er musste sie damit konfrontieren. Er musste das einfach loswerden. Ihr sagen, dass sie nicht auf ihn aufgepasst hat. Ihr sagen, dass sie ihm hätte zuhören müssen. Damals, als er versucht hat, ihr zu sagen, was der Mann mit ihm macht. Seine Mutter wusste nichts. Sie hat sich nichts Schlimmes dabei gedacht, wenn der Nachbar vorbeikam. „Wir nehmen den Kleinen, dann könnt ihr in Ruhe arbeiten“, soll er oft zu ihr gesagt haben.
Sie erinnert sich daran, dass seine Frau ihren kleinen Thomas oft zurück nach Hause gebracht hat. Mit einer Tüte in der Hand, in der seine verschmutzte Wäsche war. Wusste sie davon? Wusste sie, was ihr Ehemann mit dem Kind macht? „Seine Frau muss das doch gemerkt haben“, sagt Thomas F. „Sie hat doch das Bett sauber gemacht.“
Die Auswirkungen
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Auch wenn der Geist vergessen kann, sein Körper hat es nie. Thomas F. hat viele Jahre immer ein seltsames Gefühl im Hals, ein überdurchschnittliches Reinlichkeitsbedürfnis nach dem Toilettengang. Und stets diese Unruhe. Diese Panik. Diese verdrängte Angst, dass es gleich klingelt und der Nachbar vor der Tür steht. Ihn begleitet ein ausgeprägter Ehrgeiz. Der unterbewusste Gedanke, nur durch Leistung wahrgenommen zu werden. Doch den Belastungen im Beruf kann er nicht standhalten. Auch seine Ehe geht daran kaputt. „Man befindet sich in einem permanenten Ausnahmezustand“, erklärt er. „Mein Leben hat sich durch die Trauma-Therapie komplett verändert.“
Das Heute
Das Haus seines damaligen Peinigers steht noch. Mittlerweile wohnt natürlich eine andere Familie darin. Thomas F. war vor einer Weile dort, hat es sich von innen angesehen. Den neuen Besitzern hat er den wahren Grund seines Besuches verschwiegen. Aber er wollte seine Erinnerungen verifizieren. Und da war sie, die Treppe zum Schlafzimmer. „Ich war froh, dass ich alles genauso vorgefunden habe“, sagt er. „Es ging mir besser danach.“ Wie oft er sexuell missbraucht wurde, kann er nicht genau sagen. Vielleicht 50 Mal. Vielleicht 120 Mal. Jedenfalls über viele Jahre.
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Der Nachbar ist schon lange tot. Er wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Doch Thomas F. hat einen Weg gefunden, damit umzugehen. Er hat die Selbsthilfegruppe „Sexueller Missbrauch“ in Olpe mitgegründet. Eine Gruppe von Menschen, die sich regelmäßig trifft. Um zu reden. Um sich gegenseitig zu unterstützen. Zusammen lachen. Zusammen weinen. Einfach füreinander da sein. Thomas F. ist ein glücklicher Mensch. Mittlerweile. Die Therapie macht er nur noch bedarfsorientiert. Es geht ihm gut, nur manchmal holen ihn die Ereignisse wieder ein. Und er hat eine neue Freundin, mit der er sein Leben teilt. Thomas F. hofft, dass er irgendwann nicht mehr voller Hass an seinen Nachbarn denken muss. Er hofft, dass er irgendwann dieses beklemmende Gefühl loswird, wenn er an diese Treppe zum Schlafzimmer denkt.