Wetter. Dietmar Köster aus Wetter tritt nach zehn Jahren in Brüssel nun nicht mehr an. Das denkt der SPD-Politiker über die EU, AfD und Ukraine-Krieg.

Geht es um Europa oder demokratische Grundrechte, ändert sich bei Prof. Dr. Dietmar Köster schon mal die Tonlage. Für dazugehörige Werte setzt sich der SPD-Politiker aus Wetter leidenschaftlich und überdeutlich ein. Seit 2014 gehört er dem EU-Parlament an. Nun ist Schluss, der 67-Jährige hat seine letzte Sitzungswoche hinter sich und tritt aus Altersgründen bei der Wahl am 9. Juni nicht mehr an. Auch, um für die jüngere Generation Platz zu machen. Die Dekade als europäischer Abgeordneter sei schnell vergangen, was unter anderem an einem proppenvollen Terminkalender lag. Im Interview schaut der Sozialwissenschaftler auf „intensive“ Zeiten in Brüssel, Straßburg und in seiner großen Betreuungsregion zurück.

Trotz Ihres Ausscheidens aus dem Europäischen Parlament nehmen Sie aktuell noch viele Wahlkampftermine wahr. Wie blicken Sie nach zehn Jahren als Abgeordneter auf die EU?

Wir haben einiges auf den Weg gebracht, wenn ich etwa an den europäischen Mindestlohn denke, der mit der neuen Regelung in Deutschland auf rund 14 Euro ansteigen muss. Auch Regelungen zur Kurzarbeit, zur Stärkung der Tariftreue, welche die Bedeutung von Gewerkschaften stärkt, oder das Lieferketten-Gesetz, das große Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten zur Sorgfalt verpflichtet, dass in der Produktionskette z.B. keine Kinderarbeit einbezogen ist. Das sind alles Dinge, die in der letzten Legislatur verbessert wurden. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die EU noch mehr zu einer Schutzmacht der Vielen wird und dass Werte wie Solidarität viel deutlicher hervortreten. Verbesserungsbedarf sehe ich auch bei der Bedeutung des Parlaments, wobei wir dessen Rolle schon gestärkt haben. Als einzige EU-Institution mit gewählten und repräsentativen Vertreterinnen sowie Vertretern sollte es wie im Bundes- oder Landtag endlich ein Initiativrecht für Gesetzesvorschläge geben. Ein Unterschied zur Arbeit im Bundestag ist beispielsweise, dass es im Europäischen Parlament sehr sachorientiert zugeht und es weniger Fraktionsbindung gibt.

Und aus persönlicher Perspektive?

Ich war und bin ein überzeugter Europäer, das hat sich in den letzten Jahren noch vertieft. Im Plenum saß ich neben polnischen und französischen Abgeordneten. Diesen lehrreichen und direkten Austausch habe ich sehr geschätzt. Trotz vieler Streitpunkte fühle ich mich angesichts gemeinsamer Grundlagen sehr mit dieser zutiefst zivilen und friedensorientierten Institution verbunden. Aufgrund meines Alters halte ich es jetzt für einen guten Zeitpunkt, nach neuen Herausforderungen zu suchen. Ein Mandat wird in Demokratien ja bewusst zeitlich befristet, wobei ich meine Leidenschaft für Politik natürlich nicht ablege. Aber ich gewinne jetzt neue Freiräume, mehr Zeit zur Muße und für mein privates Umfeld. Ich bin offen für all das, worauf ich Lust habe und was sich ergibt. Doch zunächst will ich das nächste halbe Jahr nutzen, um zu reflektieren, zu lesen und meinen sozialwissenschaftlichen Neigungen nachzugehen. Ende des Jahres möchte ich Klarheit haben, wo und wie ich mich weiter einbringe. Es gibt schon Anfragen für die kommenden Monate, etwa aus Wetter zu einer Jubilarehrung oder zum Antikriegstag.

Viele fremdeln mit der Europawahl, Sie haben die Abstimmung am 9. Juni als Richtungswahl bezeichnet, warum?

Ich bin gerade etwas optimistischer. Nach einer Umfrage halten neun von zehn Befragten die Europawahl für wichtig. Die EU ist viel stärker Teil unseres Alltags als wir meinen. Wer genauer hinguckt, entdeckt zum Beispiel finanzielle Fördermittel der EU für das Naturfreibad in Wetter oder die Sicherung von Arbeitsplätzen durch den Warenexport in den EU-Binnenmarkt. Davon profitieren viele Unternehmen im Ennepe-Ruhr-Kreis, wo ja einige so genannte „hidden champions“ ansässig sind. Wer das erhalten möchte, sollte am 9. Juni wählen gehen, aber nicht bei Nationalisten ein Kreuzchen setzen. Ich mache mir große Sorgen wegen rechtsextremistischer Gefahren in Deutschland und anderen Mitgliedsstaaten, die AfD etwa will die EU zerstören. Sie plant einen EU-Austritt und den Ausstieg aus dem Euro. Das würde unser aller Alltag dramatisch verschlechtern. Wir sollten aus der Geschichte gelernt haben und die Demokratie schätzen.

Ihr Umgang mit der AfD fußt auf einer besonderen Abwehrhaltung.

Die AfD vergiftet das politische Klima und steht nachweislich so weit rechts, dass sogar Marine Le Pen in Frankreich oder Jaroslaw Kaczynski in Polen nichts mit ihr zu tun haben wollen. Ich persönlich diskutiere nicht mit AfD-Vertreterinnen oder Vertretern und sage entsprechende Veranstaltungen ab, da gegen deren Hass und Hetze keine Argumente helfen. Das hat mir den Vorwurf des Kneifens eingebracht. Ich meine aber: Wer sich mit denen an einen Tisch setzt, trägt zu deren Normalisierung bei. Und die AfDler sind Feinde der Demokratie mit einem menschenfeindlichen Programm.

Wie blicken Sie auf den Zustand der SPD, wie nehmen Sie die Stimmung in Ihrem Wahlkreis wahr?

In Ostdeutschland sind die Umfragewerte erschütternd, da liegt die AfD vielfach vor der SPD. Die sozialdemokratische Fraktion spielt in der EU eine starke Rolle, die SPD steht da für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Ihr Ziel ist es, gemeinsam mit ihrem Spitzenkandidaten Nicolas Schmit, die EU zu einer Sozialunion fortzuentwickeln. Damit können wir den Menschen in unruhigen Zeiten soziale Abstiegsängste nehmen. Das machen wir jetzt im Wahlkampf deutlich. Ich hoffe auf ein ordentliches Ergebnis am 9. Juni. Was meine Betreuungsregion betrifft: Viele wissen nicht, wie groß diese ist, sie reicht von Münster und Warendorf bis ins Ruhrgebiet. Wir sind 96 Deutsche im EU-Parlament mit 705 Sitzen, vier SPD-Abgeordnete sind aus NRW, das bedeutete für mich oft weite Fahrten mit später Heimreise.

Ein anderes Thema ist der wachsende Antisemitismus in der EU nach dem Massaker der Hamas in Israel. Ich bin sehr erschüttert, dass Menschen jüdischer Herkunft hier teilweise nicht mehr unbehelligt auf die Straße gehen können. Deutschland hat aufgrund der Geschichte eine besondere Verantwortung, das Existenzrecht Israels zu verteidigen und den Antisemitismus zu bekämpfen.

Als Mitglied des EU-Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten hatten Sie einen besonderen Draht zu Bosnien-Herzegowina. Wie kam es dazu?

Als sogenannter Schattenberichterstatter meiner Fraktion habe ich das Land mehrfach besucht und kenne die Erwartungen der dortigen Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich einer EU-Beitrittsperspektive. Vor fünf Jahren war ich das erste Mal vor Ort in einem Flüchtlingscamp, zumal ich mich als Mitglied des Unterausschusses für Menschenrechte natürlich auch um das Thema Migration und Flucht gekümmert habe. Das Grundrecht auf Asyl wird immer stärker ausgehöhlt. Unzufrieden bin ich mit dem verabschiedeten Migrations- und Asylpakt, der nach langem Kampf die Schutzrechte Betroffener ausgehöhlt. Kroatien behandelt Flüchtlinge an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina unmenschlich. In den Flüchtlingscamps zeigten mir die Flüchtlinge ihre Verletzungen, die ihnen kroatische Grenzbeamte zugefügt hatten. Das ist für eine EU, die auf Werten gegründet ist, unwürdig. Bosnien und Herzegowina haben einige Fortschritte auf dem Weg der EU-Mitgliedschaft erzielt. Aber es gibt noch viel zu tun, wie z.B. die Beseitigung von Korruption und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Die Staaten des Westbalkans müssen in der nächsten Legislaturperiode weitere Schritte in Richtung EU machen, denn sowohl Russland als auch China versuchen, die Region zu destabilisieren.

Das passende Stichwort zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine, wie sehen Sie die Lage dort?

Die europäische Bevölkerung verhält sich sehr solidarisch, ungefähr vier Millionen Flüchtlinge sind aus der Ukraine hier untergekommen, rund eine Million in Deutschland. Es ist zu begrüßen, dass sie nahezu problemlos Zugang zum Arbeitsmarkt haben oder Kinder sofort einen Schulplatz bekommen. Mit der militärischen Unterstützung habe ich mich als Anhänger der Friedensbewegung schwer getan, begrüße aber – wie Kanzler Olaf Scholz – Hilfe zur Raketenabwehr, ohne dass wir in den Krieg hineingezogen werden. Dieser darf sich nicht ausweiten oder eskalieren. Ich bin auf der Linie des SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, wonach es für einen Frieden mehr diplomatische Initiativen braucht. Der Krieg sollte mit dem Ziel eingefroren werden, einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen zu erreichen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versagt auf dieser Ebene, sie verfolgt einen Sieg auf dem Schlachtfeld. Nur auf die militärische Karte zu setzen, ist einfach zu wenig. Die EU als Friedensnobelpreisträgerin muss ihrer Verantwortung gerecht werden und sich stärker in Verhandlungen einbringen, auch wenn man sich keinen Illusionen bezüglich Gesprächen mit Putin hingeben darf. Kriege endeten immer mit Verhandlungen. Und dies wird auch im Ukrainekrieg der Fall sein. Je früher, desto besser: Umso weniger Menschen müssten in diesem schrecklichen Krieg ihr Leben verlieren. Aber ganz klar trägt Russland die Hauptverantwortung. Die russische Armee muss die Bombardierungen einstellen und ihre Soldaten zurückziehen.

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In Ihre Zeit als Abgeordneter fiel auch der Brexit, wie blicken Sie heute auf den EU-Austritt Großbritanniens?

Die negativen Konsequenzen sind klar ersichtlich, zum Beispiel hat die Bürokratie zugenommen. An den Grenzen müssen bei Importen und Exporten von Waren zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich viel mehr Formalitäten erledigt werden. Die Vorteile der Europäischen Union machen sich erst bemerkbar, wenn man sie nicht mehr hat. Der Brexit hat aufgezeigt, welches Chaos bei Erfolgen von Nationalisten entstehen kann. Ich vermisse die britischen Kolleginnen und Kollegen. Der Austritt war sicherlich ein Tiefpunkt der EU in meiner Zeit als Abgeordneter, zumal damals ein Dominoeffekt zu befürchten war. Seither wissen aber alle, was wir an der EU haben. Die EU ist nicht perfekt, aber ohne diese stünde manches dramatisch schlechter da. Alle Wahlberechtigten sollten jetzt ihrer Pflicht nachkommen, am 9. Juni wählen zu gehen.