Wetter/Brüssel. Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise – im Gespräch mit der Lokalredaktion spricht der Europaabgeordnete Dietmar Köster über aktuelle Themen.

Vor acht Jahren wurde der SPD-Politiker Prof. Dr. Dietmar Köster ins Europäische Parlament gewählt. Sein Europabüro befindet sich nach wie vor in Wetter, wo er viele Jahre lebte und an der Basis politisch wirkte. Die Lokalredaktion hat mit dem Europapolitiker über Corona, den Ukraine-Krieg und anderen Krisen gesprochen.

Bevor wir zur aktuellen Situation kommen, schauen wir kurz zurück. Können Sie zusammenfassen, wie die Pandemie Ihre Arbeit in Brüssel verändert hat und was davon bis heute geblieben ist?

Dietmar Köster: Es gab grundlegende Veränderungen. Viele Sitzungen fanden in Form von Videokonferenzen statt. Das Parlament war durch die fehlenden Besuchergruppen viel leerer. Die regelmäßigen politischen Veranstaltungen in meiner Betreuungsregion - mit knapp 5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern – in NRW fielen aus oder fanden als Videokonferenzen statt. Phasenweise waren der Impfnachweis und das Tragen der Maske verpflichtend, um ins Parlament zu gelangen. Mittlerweile finden sowohl in Brüssel als auch in Straßburg die Sitzungen wieder vor Ort statt. Einige Veränderungen sind geblieben: Heute wird bei Veranstaltungen mit Bürgerinnen und Bürgern oder der SPD in NRW häufiger überlegt, Treffen als Videokonferenzen stattfinden zu lassen, um zum Beispiel lange Anreisen zu vermeiden. Insgesamt ist der Gebrauch von digitalen Medien für die politische Arbeit in einigen Bereichen selbstverständlicher geworden. Da haben alle viel dazugelernt.

Können Sie sich noch an denkwürdige Momente im Parlament unmittelbar nach Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine erinnern?

Ich war ja noch wenige Wochen vor Beginn des Kriegs in der Ukraine auf Einladung einer jüdischen Organisation, die mich zum Gedenken an die Opfer von Babyn Jar eingeladen hatte. In Babyn Jar haben deutsche Soldaten im 2. Weltkrieg innerhalb weniger Tage 33.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer ermordet. Sowohl in Gesprächen mit der deutschen Botschafterin in der Ukraine als auch mit anderen Expertinnen und Experten wurde nicht mit einem unmittelbar bevorstehenden Angriff Russlands gegen die Ukraine gerechnet.

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Wir waren im Parlament geschockt, dass es wieder Krieg in Europa gibt mit unvorhersehbaren Eskalationsgefahren für die ganze Welt. Es gab sofort Sondersitzungen des Außenausschusses, um die Lage zu beraten und wie auf diesen völkerrechtswidrigen Krieg Russlands zu reagieren ist. Schnell war klar, dass den Menschen in der Ukraine geholfen werden muss. Denkwürdig war für mich: Direkt nach dem russischen Überfall sind ja viele Menschen auf die Straße gegangen, um ihre Sorgen vor dem Krieg und seiner Ausweitung Ausdruck zu verleihen. In Hattingen, in Wetter und in anderen Städten konnte ich dabei sein und die Ängste der Menschen unmittelbar erfahren. Dieser Wahnsinn des Kriegs muss so schnell wie möglich beendet werden.

Hat der Krieg die Arbeit bzw. die Atmosphäre im Parlament verändert?

Die Bedeutung der Arbeit im Außenausschuss ist noch mal gesteigert worden. Es vergeht keine Ausschuss- oder Parlamentswoche, in der nicht über den Krieg gegen die Ukraine beraten wird. Die Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen politischen Lagern sind heftiger geworden. Es gibt vor allem auf konservativer Seite jene, die meinen, alle nur möglichen Waffen in die Ukraine zu schaffen, um Russland militärisch zu besiegen und Putins Sturz herbeizuführen. Auf der anderen Seite stehen jene, die, einerseits die Ukraine in ihrem berechtigten Verteidigungskrieg unterstützen, aber andererseits es auch nicht zu einer Eskalation bis hin zu einem neuen Weltkrieg kommen lassen wollen. Daher darf die NATO nicht in diesen Krieg hineingezogen werden.

Haben sich Beziehungen zu Abgeordneten verändert? Wenn ja, wie?

Es gibt mit jenen Abgeordneten, die die gleiche oder eine ähnliche Haltung zu diesem schrecklichen Krieg haben, einen intensiveren Austausch über das weitere Vorgehen bei Resolutionen, Beratungen, Forderungen etc.

Sehen Sie eine Chance, diesen Krieg zu beenden?

Dieser Krieg wird keinen militärischen Sieger kennen. Eine Fortsetzung des Krieges wird nur noch mehr Tote und Zerstörung zur Folge haben. Wir brauchen einen schnellstmöglichen Waffenstillstand als Ausgangspunkt für umfassende Friedensverhandlungen. Jetzt muss die Diplomatie zum Zuge kommen. Ein Hoffnungsschimmer in diesem Sinn ist das Abkommen zwischen der Ukraine und Russland unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der türkischen Regierung zur Getreideauslieferung. Das hilft, die Hungerkrise zu bekämpfen. Zugleich hat sich die russische Seite verpflichtet, nicht nur die Schiffe nicht anzugreifen, sondern auch drei Hafenstädte im Süden der Ukraine nicht zu bombardieren. Ich hoffe, die Vereinbarungen werden eingehalten. Verhandlungen sind eine Chance, die es zu nutzen gilt. Letztendlich kann dieser Krieg nur durch Verhandlungen beendet werden.

Wie beurteilen Sie die Haltung Deutschlands?

Ich unterstützte den Kurs von Olaf Scholz, wenn er sagt, dass den Menschen in der Ukraine geholfen werden muss. Russland muss sich darüber klar sein, dass es diesen Krieg nicht gewinnen kann. Zugleich muss darauf geachtet werden, dass die NATO nicht Teil dieses Kriegs wird. Dann rutschen wir in einen Dritten Weltkrieg. Das muss unter allen Umständen verhindert werden. Zugleich achtet die Bundesregierung sehr darauf, abgestimmt mit den westlichen Partnerländern zu handeln. Das halte ich für richtig.

Führte der Krieg dazu, dass die Länder Europas auseinanderdriften oder enger zusammenrücken?

Putins Spekulation, die EU zu spalten ist nicht aufgegangen. Die EU hat mit den sechs Sanktionspaketen und den vielfältigen finanziellen und wirtschaftlichen Hilfen für die Ukraine ihre geschlossene Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Zudem zeigen die Bürgerinnen und Bürger in der EU mit den Flüchtlingen aus der Ukraine ein hohes Maß an Solidarität. Mehr als drei Millionen Menschen hat die EU aufgenommen. Das zeigt übrigens, dass die EU sehr wohl in der Lage ist, Flüchtlinge auch in dieser Größenordnung aufzunehmen. Niemand spricht heute von „Das Boot ist voll“ oder von Ähnlichem. Aber eine Zweiklassenflüchtlingspolitik darf es nicht geben. Auch die Flüchtlinge, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien, aus Afghanistan oder aus der Diktatur des Irans fliehen, müssen diese Rechte haben.

Sie gehören u.a. dem Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten und dem Unterausschuss Menschenrechte an, die ja schon von ihrer Thematik her vom Krieg in der Ukraine berührt sind. Wie stehen Sie zu Lieferungen schwerer Waffen ins Kriegsgebiet?

Das ist richtig, in beiden Ausschüssen befassen wir uns intensiv mit dem Angriffskrieg. Im Unterausschuss für Menschenrechte setze ich mich vor allem für die Rechte von Kriegsdienstverweigerer und Deserteure ein. Denn wer sich gegen den Kriegsdienst stellt, positioniert sich klar für Frieden in der Ukraine. Das Thema Waffenlieferungen wird im Außenausschuss diskutiert. Die Ukraine befindet sich in einem Verteidigungskrieg und sie sollte auch militärisch unterstützt werden. Aber die Vorstellung, dass dieser schreckliche Krieg allein durch militärische Aufrüstung und durch Waffenlieferungen gegen die Atomwaffenmacht Russland gewonnen werden kann, teile ich nicht.

Wenn Sie vor Ort in Wetter sind, welche Sorgen und Nöte bekommen Sie von den Bürgerinnen und Bürger noch mit?

Es gab ja in Wetter eine engagierte Demonstration von vielen Bürgerinnen gegen den Angriffskrieg Russlands. Da habe ich gespürt, dass die Sorgen vor einer weiteren Eskalation groß sind. Zugleich hat dieser Krieg erhebliche sozial-ökonomische Auswirkungen auf unser Leben. Die steigenden Energiepreise, die Inflation, die Sorge vor Arbeitsplatzverlust führen zu Existenzängsten. Am stärksten von dieser Krise sind die Ärmsten betroffen. Dass Mineralölkonzerne ihre Gewinne vervielfachen, während sich andere darum sorgen, wie sie über die Runden kommen sollen, geht gar nicht. Daher brauchen wir eine Übergewinnsteuer, die den Ärmsten zugutekommt.

Wie blicken Sie angesichts der drohenden Gasknappheit auf den bevorstehenden Winter, und was tun Sie, um gerüstet zu sein?

Die EU hat hier mit einem Gasnotfallplan reagiert. Danach sollen alle EU-Mitgliedstaaten bis März 2023 beim Verbrauch von Gas Einsparungen in Höhe von 15 % erzielen. Das kann zur Stabilisierung der Gasversorgung über den Winter beitragen. Wir müssen so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien setzen, um von russischen Gaslieferungen unabhängig zu werden. Viele werden sich sorgen, ihre Heizungs- und Stromrechnungen bezahlen zu können. Hier muss die Bundesregierung Unterstützungen leisten. Das Wohngeld muss erhöht werden, es dürfen keine Mietkündigungen ausgesprochen werden. Für jeden Haushalt muss ein Grundbedarf an Gas und Strom bezahlbar bleiben. Das ist zu finanzieren: Für Millionärseinkommen brauchen wir einen höheren Spitzensteuersatz, für Megareiche muss die Vermögensteuer wieder eingeführt werden. Auch eine einmalige Vermögensabgabe halte ich angesichts der Dimension der Krise für angemessen. Persönlich werde ich mein Auto noch mehr stehen lassen und das Rad sowie den ÖPNV nutzen.

Zur Person

Dietmar Köster wurde am 6. Januar 1957 in Schwerte geboren.

1975 trat er in die SPD ein.

Studium der Sozialwissenschaften in Bochum; 2001 wurde er an der Uni Dortmund zum Dr. phil. promoviert.

2002 war Köster Mitbegründer des Wittener Forschungsinstituts Geragogik und des Arbeitskreises Kritische Gerontologie in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie.

Anfang der 1990er-Jahre zog Dietmar Köster nach Wetter, engagierte sich in der SPD und saß u.a. dem SPD-Stadtverband Wetter sowie von 2000 bis 2014 auch dem SPD-Unterbezirk Ennepe-Ruhr vor. 2012 wurde er zum Professor für Soziologie an der FH Dortmund berufen, seit seiner Wahl ins Europäische Parlament 2014 ist er beurlaubt.

Dietmar Köster hat eine Tochter, ist ledig und wohnt in Dortmund.