Wetter/Hagen. Im Schwurgericht Hagen geht es auch am dritten Prozesstag um die Angeklagte aus Wetter und wieso ihr geliebter Sohn (9) gewaltsam sterben musste.

Ein freundlicher, kluger und fröhlicher Junge hat sein Leben verloren – mutmaßlich durch die Hand seiner Mutter. Die Wetteranerin (43), die sich derzeit für den gewaltsamen Tod des Neunjährigen vor dem Hagener Schwurgericht verantworten muss, stand auch am dritten Verhandlungstag im Mittelpunkt des Prozesses. Wie es zu der Tragödie kommen konnte, liegt aber weiter im Dunkeln.

Es ist der mittlerweile gewohnte Anblick: Die 43-Jährige auf der Anklagebank verzieht keine Miene, zeigt nicht die geringste Emotion. An diesem Prozesstag starrt sie überwiegend auf den Bildschirm des Laptops, der vor ihrem Verteidiger Dirk Löber steht. Und doch scheint auch dieser Blick an sich ins Leere zu gehen. Nur selten wandern ihre Augen durch den Gerichtssaal, bleiben kurz an anderen Prozessbeteiligten, Zeugen oder Zuschauern haften. Nach wie vor schweigt sie zu dem Vorwurf, ihr eigenes Kind getötet zu haben. Nach wie vor steht das Warum unbeantwortet im Raum. Die Frau, die von Zeugen als Übermutter bezeichnet wurde und die sich über den kleinen Jungen definiert haben soll, bleibt ein Rätsel in einem Fall, der auf breiter Linie erschüttert und bei dem eine Verurteilung wegen heimtückischen Mordes droht.

Verletzungen sich selbst zugefügt

Zwölf Zeugen, Polizeibeamte und Ärzte sagen am dritten Prozesstag in Saal 201 aus. Es geht um die Verletzungen, die sich die Angeklagte augenscheinlich selbst zufügte. Es geht um ihren psychischen Zustand vor, während und nach der Tat. Es geht um sie, die einfach nicht greifbar ist – und das vermutlich nicht nur, weil sie zumindest bislang nicht reden will. Die Ungeheuerlichkeit der Tat, ihr Schweigen, ihr gesamtes Auftreten lassen das Ganze fast surreal erscheinen.

Fakt ist, dass die Frau, die am frühen Morgen des 3. Februar einen Notruf absetzte, davon sprach, ihren Sohn umgebracht zu haben und sich etwas antun zu wollen, selbst lebensgefährliche Verletzungen aufwies, die einer der behandelnden Ärzte aus dem Bochumer Universitätsklinikum Bergmannsheil im Zeugenstand beschreibt. Der Mediziner verweist auf zahlreiche Schnitt- und Stichverletzungen am Hals, Oberbauch, an den Armen, Innenseiten der Oberschenkel und Füßen. Sehnen, eine Arterie und ein Nerv waren betroffen. Eine Operation und Bluttransfusionen waren notwendig. Zwei Tage befand sich die Wetteranerin auf der Intensivstation, bevor sie in das Justizvollzugskrankenhaus in Fröndenberg verlegt wurde.

Depressiv

Ein bedeutsames Wort, das in diesem Verfahren immer wieder auftaucht, ist Depression. Die psychische Erkrankung wurde bei der 43-Jährigen offenbar bereits vor einigen Jahren diagnostiziert und zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben, wenn es um Arztbesuche oder auch das Thema Mutter-Kind-Kur geht. 2016 war sie mit ihrem Sohn bereits in einer derartigen Kur. Im April 2023 hätte eine weitere angestanden. Sie selbst beschrieb ihren Zustand mit Antriebslosigkeit, verwies auf Schlafstörungen, Mutlosigkeit, ein Gefühl der Einsamkeit und die Unfähigkeit, Freude zu empfinden. Ihr langjähriger Hausarzt spricht nun im Zeugenstand von einem „Schrei nach Liebe“, von Anpassungsstörungen, depressiven Phasen und davon, dass sie mit den Anforderungen des alltäglichen Lebens nicht klar gekommen sei, von ihrem Gefühl, nicht anerkannt zu werden und dem Versuch, Anschluss zu finden. Auch sei die Rede von einer Posttraumatischen Belastungsstörung gewesen – basierend auf einer Kindheit, die sie offenbar als schwierig und lieblos beschrieb. „Die Welt war für sie heiler“, erinnert er sich im Zusammenhang mit der Geburt ihres einzigen Sohnes. Aber: „So ein Grundrauschen war immer noch da.“

Die Bewilligung der Kur für April habe sie mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Die Trennung vom Kindsvater Ende 2022 habe dazu geführt, dass sie sich arbeitsunfähig gefühlt habe. Die Beziehung zwischen ihr und dem Sohn beschreibt er auf sehr plastische Weise: „Mutter und Kind schienen eine Einheit zu sein. Sie gegen den Rest der Welt.“

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Noch am 1. Februar, also kurz vor der Tragödie, wurde die 43-Jährige bei einem Psychiater für ein erstes Gespräch vorstellig, berichtete von Missmut, Schlafproblemen, Hilf- und Antriebslosigkeit, von Zukunftsängsten und ihrer Überzeugung, dass ihr Ex-Partner sie damit ärgern wolle, wenn der Junge das Wochenende bei ihm verbringe und viel mit der Konsole spielen dürfe. Aufgrund der Anzahl der Symptome, so betont der Facharzt als Zeuge, sei er zur Annahme einer schweren Depression gelangt. Er habe ihr Antidepressiva verschrieben. Sie habe nett, freundlich, zugewandt und erleichtert gewirkt. Erleichtert, endlich mit jemandem reden zu können. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass da Gefahr im Verzug ist.“ Am 7. Februar hätte sie sich wieder bei ihm vorstellen sollen.

Ein Polizeibeamter suchte die Angeklagte in der Klinik in Bochum auf. Ihren Zustand beschreibt er vor Gericht als emotionsleer, als blankes Hinnehmen von dem, was geschah. Auf seine Frage, ob sie eigentlich wisse, was ihr vorgeworfen werde, habe sie von Angst gesprochen. Angst, als Mutter zu versagen. Sie habe versichert, ihr Kind über alles zu lieben und erklärte, dass sie ihm eine Kindheit wie die ihre ersparen habe wollen. Sie habe befürchtet, ihn nicht glücklich zu machen. Nach der Trennung habe sie dann unter Panikattacken gelitten. Und: „Ich habe eine Panikattacke gehabt, dann ist es zu dem Unfall gekommen.“

Am 7. August wird das Verfahren mit weiteren Zeugen fortgesetzt.