Herdecke. Der Weg der Demokratie lässt sich auch in Herdecke gut erkennen. Der ehemalige Geschichtslehrer Willi Creutzenberg weiß, wo man hingucken muss.

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Und sie ist den Menschen nicht in den Schoß gefallen. Mitbestimmung und Teilhabe sind auch in Herdecke erstritten worden. Bestimmte Orte erinnern auch heute noch daran, wenn man nur ihre Geschichte kennt. Und einzelne Menschen haben diese Geschichte besonders getragen. Wie steht es um die Erinnerung an den Weg der Demokratie in Herdecke und was können wir heute daraus lernen? Die Redaktion hat mit dem früheren Geschichtslehrer Willi Creutzenberg gesprochen.


Braucht die Demokratie Orte, die an ihre Geschichte erinnern?
Willi Creutzenberg: Natürlich, und solche Orte gibt es auch in großer Zahl. Sie beziehen sich aber durchweg auf die sogenannte ‚große Geschichte‘. Ich denke da an die Paulskirche in Frankfurt (erste parlamentarische Versammlung 1848) oder das Theater in Weimar (wo 1919 die Nationalversammlung getagt hat, um die Weimarer Verfassung zu erarbeiten). Interessant ist es natürlich, auf der Gemeindeebene, also auf der untersten Ebene des Staates, solche Orte zu kennzeichnen und so auf lokale Schritte zur Demokratie hinzuweisen.


Hat die Demokratie in Herdecke solche Orte zu bieten?

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Auch hier gibt es eine klare Antwort: Ja! Gerade haben wir an den Kapp-Putsch erinnert, durch den vor 100 Jahren die junge Weimarer Demokratie, die mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, beseitigt werden sollte. Und ich glaube für die meisten Herdecker/innen nicht wussten, dass es auch in Herdecke eine Konfrontation mit Anhängern des Putsches und den Verteidigern der Republik gegeben hat. Der Herdecker Bahnhof, wo die Truppen vom Freikorps Lichtschlag entwaffnet wurden, ist ein solcher Ort.

Ein anderer Ort ist für mich der kleine Lebensmittelladen von Otto Hellmuth. Mit diesem garagengroßen Laden hielt dieser sich seit seiner Entlassung aus dem KZ Börgermoor 1934 über Wasser. Seine Kunden waren im Wesentlichen die alten sozialdemokratischen Freunde. Nach 1945 gehörte Otto Hellmuth dann zu den unbelasteten Männern und Frauen, die in Herdecke ein demokratisches Gemeinwesen aufbauen mussten. Von 1952 bis 1964 war er Bürgermeister von Herdecke.

Gibt es noch mehr solcher Orte?

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Die Löwenburg, das Wohnhaus von Walter Freitag in der Wetterstraße 59, ist ein weiterer ‚Ort der Demokratie‘ in Herdecke. Von hier aus wurde die Idee der ‚Einheitsgewerkschaft‘, das meint die nicht weltanschaulich gebundene Gewerkschaft, in die Realität umgesetzt. Walter Freitag, von dieser Idee durchdrungen, war einer der Gründer der neuen IG Metall, ihr erster Vorsitzender und später DGB-Bundesvorsitzender. Auch er war übrigens lange in den nationalsozialistischen Lagern inhaftiert.

Ein viertes Beispiel: Die Herdecker Steinbrüche, ungewöhnliche Orte, aber trotzdem ‚Orte der Demokratie‘ in Herdecke. Die angeblich so anarchistischen Steinarbeiter haben es 1907 geschafft, sich zu organisieren und in Herdecke zu einer Steinhauergewerkschaft zusammenzufinden. In einem organisierten Streik setzten sie den ersten Tarifvertrag, den es überhaupt in Herdecke gab, gegen die Betreiber der Steinbrüche durch. Übrigens mit dabei waren viele italienische Arbeiter, die mit dem Streik ihr Aufenthaltsrecht in Preußen aufs Spiel setzten. Einige wurden danach als ‚lästige Ausländer‘ aus Preußen ausgewiesen.


Wie sollten die Erinnerungsorte ausgewiesen sein?

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Natürlich ist es immer interessant, wenn solche Orte mit Tafeln, entsprechenden Broschüren und auch Veranstaltungen in das Bewusstsein der Stadtgesellschaft gebracht und verankert werden. Dazu benötigt man eine größere Gruppe von interessierten Bürgern, engagierte Lehrer in den Schulen und einen breiter aufgestellten Heimatverein. Und natürlich eine Stadtspitze, die die Geschichtsarbeit vor Ort durch wirkliches Interesse und ein entsprechend aufgestelltes Stadtarchiv unterstützt.


Die Geschichte der Demokratie ist auch die Geschichte von Menschen, die die Demokratie nach vorne gebracht haben – an wen müsste dann erinnert werden?
Es gibt viele Namen von Herdecker Bürgerinnen und Bürgern, die ich nennen könnte: Emma Graefe und Margarete Krebs, die beiden ersten Frauen im Herdecker Stadtparlament. Leider sind ihre Grabsteine verschwunden, im Gegensatz zu Wilhelm Vincke und Otto Hellmuth, die beide Ehrengräber der Stadt erhielten. Wilhelm Huck, lange Ortsvorsteher von Ende, Lina Bösinghaus, die von der englischen Besatzungsmacht in das erste Beratungsgremium nach 1945 aufgenommen wurde wegen ihrer antifaschistischen Haltung. Auch Werner Kluge, der – selbst Vertriebener aus Breslau – sich große Verdienste um die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in das neue, demokratische System erworben hat.

Am 23. Mai eines jeden Jahres ist der „Tag des Grundgesetzes“. Bietet sich dieser Tag für Feste mit den Bürgern oder Veranstaltungen für sie an?

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Der 23. Mai ist in der Bevölkerung nicht besonders verankert, ich glaube, dass der 8. Mai das wichtigere Erinnerungsdatum ist. Ohne den 8. Mai 1945, die Befreiung vom Nationalsozialismus, hätte es auch keinen 23. Mai 1949 gegeben. Außerdem leidet mittlerweile der 23. Mai daran, dass das Grundgesetz im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung 1990 nicht neu diskutiert und mit einer Volksabstimmung legitimiert worden ist. Am 8. Mai sind allerdings eher nachdenkliche Veranstaltungen als ein Fest sinnvoll.