Herdecke. Ein 77-Jähriger Herdecker erzählt aus seinem Alltag als pflegender Angehöriger. Ein beinahe 24-Stunden-Job, der ihm nur wenige Atempausen lässt.

Ein gemütlicher Bummel über den Wochenmarkt oder eine Verabredung mit alten Bekannten? Für derlei Beschäftigungen bleibt Jürgen Stolle so gut wie keine Zeit. Denn zuhause am Rostesiepen wird der 77-Jährige nahezu rund um die Uhr gebraucht – von seiner pflegebedürftigen Ehefrau Ingeborg (74). Jürgen Stolle wechselte vor zwölf Jahren quasi aus der Berufstätigkeit in die häusliche Pflege. Dabei stand für ihn von Anfang an fest, dass er seine Frau niemals in ein Pflegeheim geben würde. Doch die schwere Bürde, die er sich damit selbst auferlegt hat, wird für ihn zunehmend nicht nur zu einem körperlichen, sondern auch zu einem seelischen Problem. Die Beziehung zu den Kindern ist nicht die beste, und wenn dann einmal im Monat der Urologe auf Hausbesuch zu seiner Frau kommt, lässt der meist schon in der Tür seine Tasche fallen und nimmt den Herdecker mit den Worten „Das macht ja sonst wohl keiner mehr“ in den Arm. Die Lokalredaktion hat mit dem Herdecker über sein Leben als pflegender Angehöriger gesprochen.

Seit wann und warum ist ihre Frau pflegebedürftig?

Jürgen Stolle: Meine Frau ist Diabetikerin, war schon früher deswegen zig Mal im Krankenhaus. 2008 wurde es dann ganz schlimm, da hat man ihr im Krankenhaus in Werl die Zehen amputiert. Seitdem ist sie auf Unterstützung und Pflege angewiesen.

Wie sieht denn für Sie so ein ganz normaler Tag aus?

Ich stehe um halb fünf auf und mache Frühstück für meine Frau. Kaffee, Milchbrötchen und ein Ei. Danach frühstücke ich. Um halb acht kommt der Pflegedienst zum Waschen; am Wochenende mache ich das alleine. Ansonsten gebe ich Tabletten, spritze Insulin und leere Urinbeutel. Dann bereite ich langsam das Mittagessen vor, das ich meist püriere. Am liebsten isst meine Frau Kartoffelpüree oder Reibekuchen. Wenn ich die mache, versorge ich allerdings gleich die ganze Nachbarschaft mit. Nachmittags ruhe ich mich eine Stunde aus. Um 15 Uhr gibt es Kaffee und Kuchen, zum Abendessen dann nur noch ein kleines Schnittchen.

Und wer erledigt den Haushalt?

Das mache ich. Donnerstags und freitags fahre ich zum Einkaufen schnell mit dem Bus in die Stadt; länger als eine Stunde kann ich ja gar nicht wegbleiben. Waschen und Putzen – das mache ich auch. Die Mitarbeiter vom Pflegedienst sagen immer, dass sie bei mir am liebsten mal zur Toilette gehen, weil die hier immer so schön sauber ist.

Bleibt denn da noch Zeit für Kontakte zu Bekannten oder Freunden?

Wenn überhaupt, dann treffe ich die mal donnerstags auf dem Wochenmarkt. Oder ich telefoniere abends mal mit ehemaligen Arbeitskollegen und spreche mit denen über alte Zeiten.

Gab oder gibt es Hobbys, für die sie noch ein bisschen Zeit abknapsen können?

Früher habe ich gerne gekegelt. Aber das ist lange her, und die Kegelbahnen sind ja fast alle geschlossen. Ich koche und backe gerne, übrigens jede Woche einen anderen Kuchen. Mal Apfel-, mal Käse- und auch Rhodonkuchen.

Und wie entspannen Sie am Ende Ihrer anstrengenden Tage?

Ich habe einen ausrangierten Spielautomaten, an dem ich schon mal spiele. Oder ich gucke fern, aber nicht hier im Wohnzimmer, sondern mit meiner Frau zusammen.

Wie und wo können Sie sich denn mal richtig erholen und neue Energie tanken?

Das kann ich nur im Urlaub auf Borkum; da freue ich mich das ganze Jahr drauf. Seit 1948 fahre ich dort hin und war noch nie woanders. Das ist für mich völlige Entspannung. Ich kenne da sehr viele Leute und praktisch jedes Sandkorn. Auf Borkum beginnt für mich jeder Tag mit Schwimmen. Früher ist meine Frau natürlich auch immer mitgekommen; sogar unsere Hochzeitsreise haben wir nach Borkum gemacht. Letztes Jahr musste ich allerdings nach drei Tagen den Urlaub unterbrechen, weil meine Frau von der Kurzzeitpflege ins Krankenhaus gekommen ist. Man wollte ihr eine Magensonde einsetzen, und dafür brauchte die Klinik meine Unterschrift. Ich bin dann für einen Tag und eine Nacht zurück nach Hause gekommen, habe alles geregelt und bin dann wieder nach Borkum. Das war ziemlich anstrengend.

Haben Sie bei der großen Belastung nicht ein einziges Mal daran gedacht, Ihre Frau in ein Pflegeheim zu geben?

Nein, denn dann würde sie wahrscheinlich sofort sterben.

Steckbrief

Jürgen Stolle wurde am 23. Oktober 1942 in Hagen geboren, wo er auch aufwuchs und zu Schule ging.

Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Lackierer in einem Unternehmen in Letmathe. Die Hochzeit mit Ehefrau Ingeborg fand 1966 in Hagen statt.

Nach Herdecke-Ende zog Familie Stolle im Jahr 1975.

Zwei Kinder und zwei Enkelkinder gehören zur Familie.

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