Hagen-Mitte. In der Buchhandlung am Hagener Rathaus können sich Kunden nach Feierabend einschließen lassen und sich nach Herzenslust in der Welt der Literatur verlieren. Reporter Mike Fiebig hat das Angebot ausprobiert und dabei die Ruhe genossen. Ein Abend zur Nachahmung empfohlen.

Bastian Balthasar Bux, die Hauptfigur aus Michael Endes „Die Unendliche Geschichte“, ist ein Held meiner Kindheit. So oft ging ich in Gedanken mit ihm zusammen in das Antiquariat von Konrad Koreander. So oft griff ich mit ihm nach dem geheimnisvollen Buch. So oft versank ich mit ihm in der unendlichen Geschichte.

Schnitt. Mein Karl Konrad Koreander heißt Oliver Kraus. Und soeben hat er abgeschlossen. Ich bin allein in seinem Laden, der Buchhandlung am Rathaus. Die Glocken der Marienkirche läuten. Es ist 19 Uhr. Dumpfe Stimmen klingen von der „Rose von Westfalen“ herüber, der Kneipe auf der Ecke Marienstraße/Hochstraße. Ansonsten herrscht Stille. Hunderte Bücher, Milliarden Buchstaben, eine Tasse Kaffee und ich. Wo fange ich an?

"Einschließen und genießen"

Noch mal Schnitt. Die Hagener Traditionsbuchhandlung hat die Möglichkeit, sich als Kunde einen Abend lang allein zwischen den Regalen aufhalten zu dürfen, nicht erfunden, aber erfolgreich kopiert. „Einschließen und genießen“, heißt die Idee. Allein oder in einer kleinen Gruppe können Bücherfreunde in der Welt der Literatur versinken.

Michael Endes unendliche Geschichte habe ich nicht gefunden. Gehen Hagens Kinder nicht mehr auf die Reise nach Phantásien? Begleiten sie nicht mehr den Jäger Atréju, der nach der Ursache der Krankheit der kindlichen Kaiserin sucht, um die Phantasiewelt zu retten?

Es kann vergriffen sein. Es kann daran liegen, dass das Kinderregal nur eine kleinere Auswahl bietet, weil die Buchhandlung am Rathaus ihren Schwerpunkt auf die Belletristik legt. Es kann aber auch sein, dass Eltern die Literatur ihrer Kinder bequem im Netz bestellen und den Buchhandel vor Ort damit folgenschwer schneiden. Die Kleinen sterben, die Großen wackeln. Online-Handel, die Veränderung des Leseverhaltens und der Tagesabläufe, die Digitalisierung – in diesem Becken aus Druck, Konkurrenz und Schnelllebigkeit müssen die Kleinen, wozu auch die Buchhandlung gehört, in der ich eingeschlossen bin, versuchen zu überleben.

Verwirrende Situation

Es klopft an die Schaufensterscheibe. Ein Kunde will rein. Aber ich komme ja selbst nicht raus. Also kommunizieren wir tonlos durch die Glasfront. Der Mann reibt Zeige- und Mittelfinger über den Daumen, deutet an, dass er hier etwas kaufen möchte. Ich versuche mit Pantomime zu erwidern, dass ich mich freiwillig habe einschließen lassen. Das absurde Verwirrspiel endet darin, dass der Mann abwinkt und Richtung Museum verschwindet. Wahrscheinlich mit dem Gedanken, dass ich der dusseligste Buchhändler der Stadt bin.

Es ist mal wieder so gelaufen, wie ich es nicht wollte. Obwohl etliche Autoren aus etlichen Genres aus den Regalen rufen, bin ich in der Heimatecke hängen geblieben. Bücher über Hagen. Ich wollte offen sein für die weite Welt der Literatur und habe es doch wieder nur in die Historie der Viertel unserer Stadt geschafft. Gründungstage des Eckeseyer Turnvereins statt Ken Folletts „Kinder der Freiheit“. Hagener Straßenbahnlinien statt Herta Müllers „Mein Vaterland war ein Apfelkern.“ Die Straßenbahn gibt’s gar nicht mehr, Herta Müller ist Nobelpreisträgerin.

Ist das hier videoüberwacht?

Ob die Buchhandlung wohl videoüberwacht ist? Ob Oliver Kraus am nächsten Tag wohl nachgeschaut hat, wo ich in seiner Buchhandlung so herumgeschlichen bin, welche Werke ich, erlaubterweise, aus den Verpackungsfolien geknibbelt habe? Er hat ein Telefon und einen Zettel mit seiner Nummer auf dem massiven Holztisch in der Mitte des Ladens hinterlassen. Für Notfälle. Na, die Bücher werden mir wohl nicht ausgehen . . .

Bis etwa 22 Uhr können sich Kunden der Buchhandlung nach Feierabend hier einschließen lassen. Die Stille dabei hat etwas sehr Entschleunigendes. Sich ohne Nebengeräusche und ohne Ablenkung auf Bücher, Themen und Geschichten einzulassen, ist in der Gruppe sicherlich noch spannender. Wenn einer den Follett, einer die Müller und einer das Heimatbuch greift und man über das Gelesene ins Gespräch kommt.

Als Oliver Kraus in dunkler Nacht wieder den Schlüssel ins Schloss schiebt, hat er das gleiche unangenehme Gefühl, das er immer verspürt, wenn er zurückkommt. „Ich glaube dann, dass ich störe.“

Ich bin zwar nicht wie Balthasar Bux in einer Phantasiewelt verschwunden. Aber ich habe etwas sehr Kostbares neben all der Literatur genossen. Die Ruhe.

Wie bedenklich allerdings, dass man mich dazu einschließen musste.