Eppenhausen. . Mitglieder der katholischen Elisabeth- und der evangelischen Matthäus-Gemeinde fahren einmal im Jahr ins weißrussische Klimowitschi, um dort den vergessenen Insassen eines Altenheims zu helfen.
Nach seinem ersten Besuch in Klimowitschi habe er damit gehadert, in einer Wohlstandsgesellschaft zu leben, berichtet Thomas Große (51): „Ich saß im Wohnzimmer und hatte ein schlechtes Gewissen, weil es mir so gut geht.“
Klimowitschi? Nie gehört. Klimowitschi ist eine Stadt im Osten Weißrusslands, hat etwa 15.000 Einwohner, ist ein vergessenes Nest, über dem die radioaktive Wolke von Tschernobyl ihre giftige Fracht abgeladen hat und von dem man in Hagen wohl nie etwas vernommen hätte, wenn da nicht ein paar von Nächstenliebe, Mitleid und Barmherzigkeit getriebene Menschen aus der katholischen Elisabeth- und der evangelischen Matthäus-Gemeinde wären, die in Klimowitschi dem puren Elend ins Auge geblickt haben. Unvergessen die ersten Schritte ins Altenheim: „Die inkontinenten Bewohner lagen im Bett, ihr Urin lief durch die Matratze und wurde in Eimern aufgefangen“, berichtet Ulrike Bradenbrink (51). Es habe derart entsetzlich gestunken, dass einige Hagener das Heim postwendend verlassen hätten.
Bittere Armut, zerfurchte Gesichter
Das war 2005. Seitdem fährt jedes Jahr eine Delegation aus den beiden Kirchengemeinden nach Klimowitschi. Es ist die wohl ungewöhnlichste Reisegruppe, die Hagen kennt. An der letzten Fahrt im September nahmen sieben Personen teil: mit 35 Koffern. Macht fünf Koffer pro Person, einer für den Eigenbedarf, vier mit Hilfsgütern bepackt. Ein Koffer voller Schokolade, ein Koffer voller Besteck, ein Koffer voller Inkontinenz-Auflagen, ein Koffer voller Zahnbürsten und Zahnpasta, ein Koffer voller Verbandsmaterial, ein Koffer voller Taschentücher, damit die alten, in Lumpen gehüllten Bewohner des Seniorenheims sich nicht länger an ihren Lumpen die Nase schnäuzen und den Mund und ihre Tränen abwischen müssen.
Die bittere Armut, die zerfurchten Gesichter der abgearbeiteten, alten Menschen, die hygienischen Missstände haben die Hagener verstört. Liegt Weißrussland wirklich in Europa? Das Altenheim befindet sich im verstrahlten Gebiet, am Rande der Sperrzone, es befand sich aber nicht immer dort, es wurde erst nach der Katastrophe von Tschernobyl dort eingerichtet. Und dann der Sterberaum! Ulrike Bradenbrink schüttelt sich, wenn sie an dieses deprimierendste aller deprimierenden Bilder denkt, mit denen sie konfrontiert wurde: „Also da ist dieser schmale, abgedunkelte Raum, da stehen ein paar Pritschen drin mit Wolldecken drauf, und darunter liegen die alten Menschen.“ Sie leben nicht mehr, will sie sagen, in ihren letzten Tagen vegetieren sie vor sich hin.
Grauenhafte Details
Es sind grauenhafte, herzzerreißende Details, die Thomas Große, Ulrike Bradenbrink und die anderen Helfer zu erzählen haben von dem Altenheim am Ende der Welt. Aber sie haben auch viele Verbesserungen erreicht, pro Jahr liefern sie 8000 Pampers an das Heim. Die Urineimer sind verschwunden, die bettlägerigen Insassen liegen nun auf neuen Matratzen in sauberen Bettbezügen. Es stinkt nicht mehr bestialisch.
Die Hagener haben 40 Paar Schuhe gekauft, damit die Alten nicht mehr barfuß und in Wickeln durch das Haus schlurfen müssen. Ab und zu schaut ein orthodoxer Pastor vorbei, sonst haben die von aller Welt Vergessenen keinen Besuch zu erwarten. „Aber wie glücklich sie sind, wenn sie einen Kamm geschenkt bekommen, und wie sie sich freuen, wenn wir ihnen einen Handspiegel überreichen“, sagt Ulrike Bradenbrink.
Radioaktiv verseuchtes Gebiet
Ob sie sich nicht mulmig fühlen, einmal im Jahr zehn Tage in einem radioaktiv verseuchten Gebiet zu verbringen? Doch, doch, sagt Thomas Große, aber anders als vor Ort könne die Hilfe nicht organisiert werden. Sonst verschwänden die Geldmittel und Spenden in irgendwelchen dunklen Kanälen. Die Hagener logieren nicht im Hotel, sie beziehen Mehrbettzimmer in einer kargen, spartanisch eingerichteten Jugendherberge, um sich so weit es geht auf die Armut einzulassen: „Und wir bezahlen alles selbst. Jeder gespendete Cent kommt zu hundert Prozent in dem Altenheim an. So verstehen wir das eben.“
Thomas Große weiß, dass er, gemessen am weißrussischen Standard, ein wohlhabender Mensch ist. Mittlerweile hat er sich damit abgefunden: „Wenn die Gewissensbisse kommen, sage ich mir: Ginge es dir nicht gut, könntest du nicht helfen.“ So hat er wenigstens seinen inneren Frieden wiedergefunden.