Thyssenkrupp Hohenlimburg tut, was nie ein Unternehmen zuvor in Deutschland geschafft hat. Nun fließt grüner Strom ins Stahlwerk.
Das Wort fällt ziemlich oft: „historisch“. In der Tat ist das genau der richtige Begriff. Denn an der Oeger Straße in Hohenlimburg ist zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands ein Industrie-Unternehmen auf direktem Wege mit einem Windpark verbunden worden. Hoch energieintensive Produktion trifft grünen Windstrom. Und: Industrie und privater Windpark-Betreiber haben erstmals in Deutschland geschafft, worin Landes- und Bundespolitik noch hinterherhinken: einen Wind-Industrie-Strompakt. Thyssenkrupp Steel in Hohenlimburg wird ab sofort direkt mit Strom aus dem Hohenlimburger Windpark von SL Naturenergie versorgt.
Der lange Weg in den Wind
Diese Zeitung hat allein Tausende Zeilen über den Hohenlimburger Windpark verfasst. Über die Anfangstage der losen Idee vor über 14 Jahren, über Rotmilane und ihre Schutzwürdigkeit, über Verwaltungsgerichtsverfahren, über Abstände, über Geräuschimmissionen, über Kabelverlegungen, Klagen, Fürsprecher und stockende Verfahren. „Nun ist es Wirklichkeit“, sagt SL Naturenergie-Geschäftsführer Klaus Schulze Langenhorst. „Das war keine Deutschland-Geschwindigkeit, aber wir haben es gemeinsam gepackt.“
Es ging nur gemeinsam
Darin mag der eigentliche Zauber des ersten Direktliefervertrags zwischen Industrie und Windenergie-Unternehmen liegen. André Matusczyk, Vorsitzender der Geschäftsführung des Stahlriesen am Standort Hohenlimburg sagt: „Das ist das Ergebnis der Zusammenarbeit und der Geduld vieler, vieler Mitarbeiter und der Zusammenarbeit mit SL Naturenergie und der Stadt.“ Denn bei einer feierlichen Einweihung der neuen Netzleitung im Werk in Hohenlimburg am Montagvormittag machen alle - auch die anwesende NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) deutlich, dass etliche bundesweite Versuche einer solchen Verbindung an der zerstörerischen Kraft der Regulation und Auflagendichte zerschellt sind.
Pionierleistung für viele weitere Industrien
Und deshalb ist dieser Tag historisch. Nicht, weil Strom von einem Windrad in eine Fabrik fließt. Sondern, weil dieses erste windbestromte Werk Deutschlands der Türöffner sein kann für so viele weitere Industrien im Land. Für die Dekarbonisierung direkt vor Ort. Und für einen Abbau von im Grunde widersinnigen Regelungen. Beispielsweise, dass Direktbelieferung durch Windparks nur auf einer Trassenlänge bis fünf Kilometer passieren darf. Warum nur, fragen sich Industrielle.
Der Stromverbrauch der Stadt Iserlohn
Welch gewaltige Power da in direkter Umgebung des Thyssenkrupp-Werks in Hohenlimburg - nur drei Kilometer weiter - erzeugt wird, zeigen die nackten Zahlen. 55 Millionen Kilowattstunden Strom erzeugen die vier Windräder. Sie allein senken den CO₂-Ausstoß des Hohenlimburger Werks um elf Prozent. Eine Million Tonnen Stahl wird hier jährlich warmgewalzt. Dafür werden 110 Gigawatt-Stunden Strom im Jahr gebraucht. „Das ist der Jahresverbrauch der Stadt Iserlohn“, sagt André Matusczyk. Mit der Menge können 100.000 Menschen privat versorgt werden.
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André Matusczyk fasst eine große Klammer. 400 Jahre Stahltradition am Standort in Hohenlimburg. „Man kann heute ohne Übertreibung sagen, dass Hohenlimburg das Silicon Valley der Kaltwalz-Industrie ist. Vor 200 Jahren haben wir die Produktion hier fest etabliert, hier arbeiten 1000 Menschen.“ Die Bedeutung des Werkes für die Stadt und die Region ist ebenso groß wie die der grünen Revolution in der Industrie selbst. Übrigens: Ohne warmgewalzten Stahl dreht sich kein Windrad, fährt kein Elektroauto. Die Sägeindustrie braucht es, die Auto-Zulieferer, der Landmaschinenbau. Der Begriff ist seit der Corona-Pandemie fast verschwunden, aber in dieser Industrie steckt viel Systemrelevanz.
Die Politik muss nachlegen
„Das ist auch ein besonderer Schritt in Richtung besserer internationaler Wettbewerbsfähigkeit“, sagt NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur vor Ort. Sie ist Teil jener Adressenschaft, die zuhören muss, wenn es um Lockerung und De-Regulation in Sachen Windkraft und Industrie geht. Sie verweist auf das Energiegesetz. Genauer auf Paragraf 2: „Erneuerbare Energien sind von überragendem öffentlichen Interesse.“
Allein die vier Windräder decken 40 Prozent des gleichzeitigen Strombedarfs von Thyssenkrupp in Hohenlimburg im Jahr. Und: Das öffentliche Netz wird entlastet. Hohenlimburg - so scheint es an diesem Tag - ist nicht nur die Wiege des Kaltwalzens. Möglicherweise auch die Wiege neuer Wege der Stromversorgung großer Industrien.