Hagen. Mehrfach ist Mo, der Tänzer aus Hagen, dem Tod entkommen. Heute tanzt er mit einer Prothese, die er selbst gebaut hat. Seine Geschichte:
Wenn er auf der Bühne steht, vergisst er all das: den Krieg, den Bombenangriff, die Todesangst, die Flucht, die Schüsse, die Überfahrt, das Wasser, die Amputation, die Traurigkeit. Wenn er auf der Bühne steht, vergisst er all das. Es zählt der Moment, es zählt die Musik, es zählt die Bewegung, es zählt die Ekstase.
Mohammad Al Haji aus Hagen ist Tänzer. Ein sehr guter obendrein. Einer, der als Tanzlehrer jungen Menschen beibringt, auf welch außergewöhnliche Art man sich zur Musik bewegen kann. Einer, der schon auf großen Bühnen gestanden hat. Was Mo, den Tänzer, von vielen anderen unterscheidet: Mohammad fehlt ein halbes Bein.
Prothese beim Tanz verloren
Wenn Mohammad Al Haji auf der Bühne steht, dann trägt er eine Prothese. Fast immer - es sei denn, er verliert sie. So wie bei seinem letzten Auftritt im Lutz-Theater. „Ich habe auf dem Boden weitergetanzt, bin dann von der Bühne gekrochen“, sagt Mohammad Al Haji und lacht. „Die meisten im Saal werden das nicht mal bemerkt haben.“ Niemand muss peinlich berührt sein - Mohammad erzählt selbst von dieser Panne mit einer Offenheit und einer Fröhlichkeit, die nur jemand ausstrahlen kann, für den ein Traum in Erfüllung gegangen ist.
Die Prothese ist seit mehr als einem Jahr ein (fast immer fester) Teil von Mo. Einer, den er selbst geschaffen hat. Mohammad Al Haji macht nach dem Fachabi am Käthe-Kollwitz-Berufskolleg eine Ausbildung zum Orthopädietechniker bei der Firma Riepe. „Als ich die Prothese zum ersten Mal angelegt habe, habe ich sofort ausprobiert, ob man mit dem Ding tanzen kann“, sagt er. Es klappt - Mo, der Tänzer, hat eine Perspektive: auf der Bühne. Und im Beruf.
Dem Tode entkommen
Vielleicht ist dieses das größte Wunder in einem jungen Leben, das so voller Wunder steckt, dass auch eine ganze Zeitungsseite kaum ausreichen würde, um sie alle aufzuschreiben: Mo, der Tänzer, lebt. Er ist dem Tod entkommen. Nicht einmal. Mehrmals.
Als 2015 - Mo war 22 Jahre alt - die Rakete in der syrischen Hauptstadt Damaskus direkt neben ihm einschlug und sein Bein zertrümmerte, als er fast verhungerte und sich von Blättern ernähren musste, als er ein halbes Jahr in einem Keller vor sich hin vegetierte, als türkische Soldaten an der Grenze anlegten und auf ihn schossen, als ein anderer Flüchtling ihn auf die Schultern nahm und mit ihm über eine schmale Holzbohle balancierte, die über einem sieben Meter tiefen Graben lag. Als er aus dem völlig überfüllten Schlauchboot ins Mittelmeer fiel. Als schließlich sein Zustand sich so sehr verschlechterte, dass nur noch eine komplizierte Operation sein Leben retten konnte und Mediziner ohne Narkose Splitter aus seinem Bein zogen. Mo ist heute 31 Jahre alt.
Amputation wird unausweichlich
Mo tanzt. In seiner eigenen Wohnung in Altenhagen, im Kultopia, wo er auf einer Bühne trainieren kann. Und bei all seinen Auftritten. Zunächst mit einer Orthese, später dann, als sich sein Bein im Oktober 2022 mal wieder entzündet und ihm Ärzte die Amputation nahelegen, mit einer Prothese.
Angefangen hat er mit dem Tanzen in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Heimlich, ohne dass seine Eltern davon wussten. „Ich hatte einen Breakdance-Film gesehen - das hat mich inspiriert. Wir waren eine Gruppe von 30 jungen Leuten, waren auf der Straße und in den besten Clubs der Stadt unterwegs, haben uns Schrittfolgen und Bewegungen auf Videos abgeguckt und uns selbst beigebracht“, sagt Mo, „Tänzer wurden von der Polizei als schwul beschimpft. So haben wir oft heimlich getanzt. Auch mein Vater wusste nichts davon, wäre dagegen gewesen. Wenn ich ihm heute Bilder schicke und von meinen Auftritten erzähle, ist er unglaublich stolz.“
Der Tanz im Kopf
Mohammad Al Haji hat immer getanzt. Auch in der langen Zeit, als er sich nicht bewegen konnte. Sechs Monate hat er in einem Keller gelegen. „Neben einem kleinen Mädchen, das bei demselben Angriff beide Eltern und beide Beine verloren hatte“, sagt er. „Ich habe mir oft auf die Zunge gebissen, damit ich nicht schreien musste. Ich wollte dem Mädchen und den anderen Kindern Mut machen.“
Mo liegt in diesem Keller, und er tanzt. Er tanzt in seinem Kopf, er tanzt in seinen Gedanken. „Das befreit“, sagt er. „Das hilft gegen die Traurigkeit.“
Die Liebe des Publikums
Er schaffte es nach einer langen Odyssee bis nach Deutschland, strandet zunächst in Solingen. „Ich bin dort ins Rathaus gehumpelt, habe gesagt, dass ich neu bin und dass ich Hilfe brauche“, sagt er. „Ich war so glücklich, es hierher geschafft zu haben, dass ich erst einmal einen Strauß Blumen gekauft und ihn der Frau im Ausländeramt in die Hand gedrückt habe.“
Mo tanzt auf der Bühne. „Bei meinem ersten Auftritt vor rund 300 Zuschauern“, sagt er, „als ich fertig war, sind alle aufgestanden und haben applaudiert. Ich habe so viel Liebe gespürt in diesem Augenblick. Das war ein Moment, den ich nie vergessen werde.“
Ein Leben ohne Schmerzmittel
Mo tanzt, und Mo erfährt in Hagen mehr über das Land, das sein neues Zuhause ist, und über die Menschen, die hier leben. „Ich bin Teil der Gruppe ,Lichter der Großstadt‘, die sich im Kultopia getroffen hat“, sagt er, „dort habe ich viel gelernt.“ Immer wieder in Projekten, in denen es um Demokratie, um Partizipation und um Rassismus geht. Programme, Filme und Auftritte erwachsen daraus.
Mo tanzt. Und Mo muss keine Schmerzmittel mehr schlucken. Er hat viele Träume. Seine Familie nach elf Jahren zum ersten Mal wiederzusehen, ist einer. „Ich möchte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen“, sagt er, „und dann hoffe ich, dass wir uns in einem Land, das an Syrien grenzt, treffen können.“