Hagen. An einer Schule in Hagen lernen Zuwanderer für einen Start ins Berufsleben. Im Unterricht erzählen sie Geschichten ihrer abenteuerlichen Flucht.
Deutsch steht offiziell an diesem Dienstagmorgen auf dem Stundenplan. Deutsch, eine Lektüre. Doch dann hat sich Besuch angesagt: Menschen, die für die Zeitung in Hagen arbeiten. Also erzählt Seid eine Geschichte, die für einen Roman reichen würde. Es ist eine Geschichte von vielen, die die Schüler, die hier offizielle Studierende genannt werden, erzählen könnten. Geschichten, die Bücher füllen könnten.
Die von Seid, einem 23-Jährigen jungen Mann mit syrischen Wurzeln, in Gänze zu erzählen – dafür würde eine Zeitungsseite nicht reichen. Er steht vorn im Klassenraum, zeigt mit einem Stock auf eine Karte und zeichnet den Weg seiner Flucht nach. Auf Deutsch, weil er ja am Rahel-Varnhagen-Kolleg gerade im Deutschunterricht sitzt.
Zehn Tage ohne Essen
Seid zeigt mit dem Stock auf das Ländereck zwischen Kroatien, Slowenien und Italien. „Zehn Tage lang waren wir dort zu Fuß unterwegs“, sagt er. „Wir hatten nichts zu essen. Getrunken haben wir nur den Regen, der vom Himmel gefallen ist. Ein Freund von mir ist da gestorben.“
Es ist der dramatische Teil einer Flucht, an deren Ende zunächst Bayern steht. „Ich wusste ja nicht wohin“, sagt Seid, „ich bin zu Polizei gegangen und wollte mich anmelden.“ Die Polizisten aber, so sagt er, hätten ihn nicht verstanden. „Sie haben mich erst einmal für zwei Wochen in den Knast gesteckt.“
Ex-Dezernentin unterrichtet Deutsch
Willkommen in Deutschland, willkommen in einer neuen Welt, die für Seid so anders ist als all das, was er aus Syrien kannte. Vier Jahre liegt dieses ungewöhnliche Ankommen nun zurück. Seid lebt mittlerweile in Hagen. Und er besucht mit 22 anderen Studierenden diese Klasse, in der jene jungen Menschen aus den verschiedensten Ländern gelandet sind, die durch ihre Deutsch-Kenntnisse in den sogenannten Vorkursen im ersten Halbjahr auf sich aufmerksam gemacht haben. Junge Menschen, die freiwillig kommen, weil sie auf der Suche nach einer Perspektive sind.
Unterrichtet werden sie im Fach Deutsch von einer Lehrerin, die 2011 an der Odenwaldschule zuletzt vor einer Klasse gestanden hat. Dann ist auch sie nach Hagen gekommen. Nicht als Flüchtling, sondern als Dezernentin, in deren Zuständigkeit auch das Thema Zuwanderung fiel. Margarita Kaufmann gehörte der Stadtspitze an, war zuständig unter anderem für Soziales, Bildung und Kultur und ist seit Anfang 2022 im Ruhestand. Jetzt unterrichtet sie wieder, ehrenamtlich, eine außergewöhnliche Klasse an einer außergewöhnlichen Schule, die Erwachsenen, die nicht mehr schulpflichtig sind, Abschlüsse ermöglicht.
Studenten aus aller Herren Länder
Bei 100 Prozent liegt der Ausländeranteil in dieser Klasse. Die Studenten kommen aus Syrien, aus dem Iran, aus Serbien, aus Tunesien, aus Marokko, dem Irak, aus Guinea und Somalia. „Die Studenten sind offen, sind freundlich“, sagt Margarita Kaufmann. „Aber ein großes Problem ist die hohe Fehlquote. Es gibt immer wieder Tage, an denen ein Drittel der Schüler fehlt. Neben effektiven Sanktionsmöglichkeiten bräuchte es begleitende Beratungsangebote. Viele sind in Deutschland überfordert, brauchen Orientierung. Es sind junge Menschen, die oft in autoritären Systemen groß geworden sind. Da kann es nicht verwundern, dass ihnen das Verständnis für Demokratie fehlt und dass sie mit unserer Bürokratie völlig überfordert sind.“
Kaufmann, die ja selbst ein Teil dieses bürokratischen Systems war, hilft wo sie kann. Aber letztlich ist sie hier, um zu unterrichten.
Zwischen Lkw-Reifen nach Europa
Junge Menschen wie Seid, der sagt, dass man ohne Schule und ohne Ausbildung in Deutschland „nichts“ sei, der studieren oder eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker machen will. Oder wie Alud, der ebenfalls aus Syrien stammt und sich zu Wort meldet, weil auch er seine Geschichte erzählen will. Auf Deutsch im Deutschunterricht.
Alud, der seit eineinhalb Jahren in Deutschland lebt, ist mit einem Lastwagen gekommen. Nicht im Führerhaus auf dem Beifahrersitz, sondern liegend zwischen den großen Hinterreifen des Aufliegers. Hier hat er gekauert und drauf gehofft, dass ihn an der Grenze niemand entdeckt. „15.000 Euro haben meine Eltern dafür bezahlt“, sagt er. 15.000 Euro für das Leben in einer anderen Welt, für eine Perspektive, an der er jetzt arbeiten will. Im Deutsch-Kursus von Margarita Kaufmann am Rahel-Varnhagen-Kolleg.