Hagen. Zwischen Zaubermärchen und Popsong: Junge Bühne am Theater Hagen nimmt sich den Klassiker „Der Sturm“ vor. Das Ergebnis? Fantastisch.
Festen Boden hat in dieser Geschichte niemand unter den Füßen, nicht nur, weil es um einen Schiffbruch und eine einsame Insel geht. Die Protagonisten werden zerfressen von Hass und Rache. Wer holt mich hier raus? Die junge Emilia gerät im Theater Hagen unversehens in Shakespeares „Der Sturm“ und muss zwischen all den brutalen Helden erwachsen werden. Anja Schöne inszeniert an der Jungen Bühne Lutz den Klassiker jetzt als Verschränkung von Shakespeares Wortkunst mit der Poesie der Popkultur. So entsteht fantastisches Theater, das große Lebensfragen aus weiblicher Perspektive stellt, ohne mit einer fertigen Antwort belehren zu wollen.
Ein rostiges Rhönrad
Ein vergammelter Steg, einige Ölfässer, Meerwasser und ein rostiges Rhönrad bilden die großartig-reduzierte Kulisse, die Sabine Kreiter entworfen hat. Die fünf Darstellerinnen und Darsteller teilen sich geschlechtsübergreifend alle zwölf Rollen. „Der Sturm“ (1611) gilt als das letzte Theaterstück von William Shakespeare, es wird als Romanze mit Elementen des Zauberspiels ausgeflaggt, aber tatsächlich handelt es sich um eine tragische Komödie. Denn fast alle Protagonisten wollen sich gegenseitig umbringen oder vergewaltigen, fast alle Beziehungen sind gewalttätig.
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Diese Muster hinterfragt Anja Schöne auf raffinierte Weise, indem sie jedem Akteur Zitate aus Liedern zuordnet. Die Darsteller sind gleichzeitig Musiker, und zwar auf so schrägen Instrumenten wie Cajon, Taschentrompete, Melodika und Ukulele. Jedes Zitat beschreibt eine Sehnsucht, so groß und überwältigend und so passgenau, als hätte Shakespeares selbst sie komponiert, im Mittelpunkt steht „Hurra, die Welt geht unter“ von K.I.Z., dazu kommt „Wir sind frei“ von Blumfeld.
Eine Stück-Besetzung
Die junge Schauspielerin Rebecca Hirschler bringt das Stück sozusagen ins Rollen, sie okkupiert den „Sturm“ wie eine Hausbesetzerin oder besser Stückbesetzerin. Denn sie ist bereit für das Paradies, für das Schiff, das seine Passagiere zu einem utopischen Ort bringt, nachhaltig, gleichberechtigt und in Freiheit, so lautet jedenfalls der Plan. Dabei strandet sie auf der Insel von Shakespeares „Sturm“, wo der Ex-Herzog und Zauberer Prospero mit seiner Tochter Miranda lebt und alle seine Feinde Schiffbruch erleiden lässt, seinen Bruder, der ihm die Krone geraubt hat, den König von Neapel, der dabei half, Prospero zu stürzen, dessen Bruder und Sohn sowie den Berater. Sie alle haben offene Rechnungen miteinander, dazu kommt der versklavte Ureinwohner Caliban, der versuchte, Miranda zu vergewaltigen.
Unbelastet von dieser Gewalt sind nur der Luftgeist Ariel, selbst von Prospero in den Dienst gebunden, und Miranda alias Emilia.
Das Tagebuch Emilias
Das liest sich ziemlich undurchschaubar, aber Anja Schöne kriegt die Überfülle an Personal gut in den Griff, in dem sie Emilia die Ereignisse in einer Art Tonstudio in ihrem Tagebuch kommentieren lässt. Das Mädchen stellt Fragen, dort, wo der reichlich paternalistische und autoritäre Prospero und der verliebte Ferdinand über ihr Schicksal bestimmen wollen.
Im „Sturm“ stecken viele Interpretationsansätze. Doch kurz bevor das Lutz-Team mit den Proben begann, mordeten und vergewaltigten Hamas-Terroristen in Israel Zivilisten. „Dieser Überfall hat so viel geändert in unserer Arbeit“, sagt Anja Schöne. Der „Sturm“ ist nun eine Geschichte von Hass und Rache, aber auch die Geschichte einer Emanzipation, denn Emilia will die Gewaltspirale nicht mehr weiterdrehen, sie sucht den Resetknopf.
Neben Rebecca Hirschler als Antonio/Miranda/Emilia verkörpert Aischa-Lina Löbbert als Ariel/Bootsmann/Trinculo/Ferdinand die zweite Figur mit einer starken Sehnsucht: Sie ist ein Luftgeist, und doch gebunden durch eine Dankesschuld, sie sehnt sich nach Freiheit: „Komm sag es allen, wir sind frei. Es gibt kein Müssen und kein Sollen / Wenn wir nicht wollen. Die Zeit der Heuchler ist vorbei/ Und ihrer Tyrannei./Denn wir sind frei.“
Anja Schöne liebt ungewöhnlichen Lösungen. Der Zauberer Prospero zum Beispiel mit seinem magischen Mantel wird durch eine serielle Handpantomime verkörpert, sehr ungewöhnlich und sehr unheimlich. „Der Sturm“ ist aber auch ein Märchen, eine Parabel über das Theater und das Spiel des Lebens: „Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kleines Leben beginnt und schließt im Schlaf.“
Termine und Karten
Die Premiere von Shakespeares „Sturm“ ist am 25. 11. Um 19.30 Uhr im Lutz des Theaters Hagen. Weitere Termine und Karten www.theaterhagen.de