Hagen. Der Druck durch Zeitarbeit auf die Pflegebranche ist hoch. Auch in Hagen. Die lokalen Einrichtungen warnen vor einem Systemkollaps.
Die Pflegebranche leidet unter großem Fachkräftemangel. Neben der schwierigen Suche kommt aus Sicht der heimischen Akteure auf dem Pflegemarkt noch ein weiteres Problem: finanzieller Druck durch den Leiharbeitssektor. Bei der Diakonie in Hagen sagt man beispielsweise: „Das Geschäftsmodell der Leiharbeit im Pflegebereich befeuert einen drohenden Systemkollaps.“ Die Pflegereform des Bundesgesundheitsministeriums soll Zeitarbeit eindämmen. Aktuell aber bleibt die Lage brenzlig.
Die Kritik geht so, wenn man Stellungnahmen der auf dem Hagener Markt tätigen Pflegeunternehmen betrachtet: Leiharbeitsfirmen seien ein sinnvolles Instrument zur Ergänzung bei Belastungsspitzen. Sie sollen aber vor allem überteuert sein und von der Notlage profitieren.
Unternehmen verhandeln mit Landschaftsverband
Pflegeeinrichtungen erwirken gemeinhin über die sogenannten Pflegesatzverhandlungen die Kostensätze, die für ihre Pflegeleistungen abgerechnet werden dürfen. Die Abrechnungsgröße pro Heimbewohner ist also reguliert. Die Höhe der Pflegesätze wird zwischen den Sozialleistungsträgern und den Trägern der Pflegeeinrichtungen nach bestimmten gesetzlichen Vorgaben vereinbart. Konkret ins Hagener Beispiel übersetzt, bedeutet das: die Unternehmen verhandeln beispielsweise mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL).
Der Betrieb für Sozialeinrichtungen (BSH) betreibt in Hagen das bekannte Seniorenzentrum an der Buschstraße. Auf Anfrage erklärt Sprecherin Alicia Pieper: „Der Durchschnittswert einer Fachkraft liegt bei 47.8000 Euro pro Jahr inklusive Sonderzahlungen und Zulagen. Bei einer ungelernten Kraft liegt das durchschnittliche Jahresgehalt bei rund 43.000 inklusive Sonderzahlungen und Zulagen.“ Für Leiharbeitskräfte entstünden rund 50 Prozent höhere Personalkosten, wenn der Einsatz auch an den Wochenenden und Feiertagen erfolge. So habe der BSH beispielsweise im Jahr 2021 Mehrausgaben von 318.000 Euro gehabt.
Alicia Pieper: „Die Preise sind deutlich überteuert. Sie sind in den letzten Jahren überproportional angestiegen und haben zu einem zunehmend schlechteren Preis-Leistungs-Verhältnis geführt.“ Und: „Den Einsatz von Leihkräften muss der Betreiber über nicht pflegesatzrelevante Positionen erwirtschaften. Am Ende zahlen dies die Kunden und es geht eindeutig zu Lasten der Pflegeversicherung und deren Versicherten.“
Ziemlich deutlich benennt man das Problem auch beim Unternehmen Wohlbehagen. „Das Preisniveau ist eindeutig zu hoch und steht in keiner Relation zu dem, was die Festangestellten bekommen. Es kommt hinzu, dass jeder Leiharbeiter erstmal durch die Festangestellten eingearbeitet werden muss – das erzeugt Unmut bei den Festangestellten. . Es ist jedes Mal spürbar, wenn Urlaubszeit oder Grippewelle eintreten, steigen die Stundenlöhne der Leiharbeiter“, erklärt die Geschäftsführung.
Direkte Konkurrenz zu Leihfirmen
„Wir stehen bei der Personalbeschaffung mittlerweile in direkter Konkurrenz zu Leiharbeitsfirmen. Das Geschäftsmodell der Leiharbeit im Pflegebereich befeuert einen drohenden Systemkollaps“, erklärt Diakonie-Sprecher Tobias Hellmich. Wir bezahlen unsere festangestellten Mitarbeitenden nach Tarif mit entsprechenden Zusatzleistungen. Der Vorteil beim Einsatz von Leiharbeitern ist, dass die Versorgung unserer Kunden übergangsweise sichergestellt wird. Schwierigkeiten bestehen darin, dass Arbeitsabläufe bei Leiharbeitenden nicht immer vollumfänglich nach unseren Standards geleistet werden. Das äußert sich zum Beispiel bei der mangelnden Bereitschaft zur Dokumentation oder auch darin, Dienste zu unattraktiven Zeiten zu übernehmen“, so Hellmich.
Komplexes Verhandlungsgeflecht
Beim LWL erklärt man auf Anfrage, nicht in allen Fällen zuständig zu sein und stellt klar: „In diesem Kontext ist der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) als überörtlicher Träger der Sozialhilfe von seinen Mitgliedskörperschaften, den Kreisen und kreisfreien Städten in Westfalen-Lippe, mandatiert worden, als eine „Partei der Pflegesatzvereinbarung“, gemeinsam mit den Pflegekassen die Pflegesätze und die Kosten für die Unterkunft und die Verpflegung für die Tagespflegen und vollstationären Pflegeeinrichtungen in Westfalen-Lippe zu vereinbaren.“ Allein die Antwort zeigt, wie komplex Pflegesatzverhandlungen in Deutschland sind.
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„Der Einsatz von Leiharbeit in der Pflege ist nach unserer Einschätzung noch weitaus geringer verbreitet als in anderen Branchen“, erklärt LWL-Sprecher Frank Tafertshofer und fügt an: „Die Verantwortung für die Sicherstellung des Leistungsangebotes durch eine wirtschaftliche Betriebsführung obliegt dem Träger in der Pflegeeinrichtung.“
„Ein Pluspunkt für den meist freiwillig gewählten Weg in die Leiharbeit ist, dass die Leiharbeitnehmer auf die Arbeitsbedingungen wie Dauer und Lage der Arbeitszeiten Einfluss nehmen können“, erklärt der LWL. Dies gelte ebenso für das „Holen aus dem Frei“ oder die Anordnung von Überstunden. Eine regelhafte Berücksichtigung von Leiharbeit im Rahmen der Pflegesatzvereinbarung würde diesen Trend verstärken und bei den Mitarbeitern der Stammbelegschaft letztlich die Motivation erhöhen, ebenfalls den Weg in die Leiharbeit zu wählen.
Ministerium setzt auf Anreize
„In Bezug auf die Personalsituation ist es wichtig, die Beschäftigungsverträge und -bedingungen so zu gestalten, dass die Tätigkeit für die Beschäftigten attraktiv bleibt“, heißt es auf Anfrage der WESTFALENPOST aus dem Büro von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Das Ministerium hatte auch eine Studie zum Pflegearbeitsplatz der Zukunft in Auftrag gegeben. In dieser Studie wird auch das Thema Leiharbeit in der Pflege aufgegriffen.
In der Langzeitpflege sei zur Verbesserung der Attraktivität des Arbeitsplatzes Pflege mit dem „Gesundheitsweiterentwicklungsgesetz (GVWG)“ mit Wirkung zum 1. September 2022 die Verpflichtung für Pflegeeinrichtungen, Pflege- und Betreuungskräfte mindestens in Höhe von Tarif zu entlohnen, eingeführt worden. Ferner soll künftig die Gehaltslücke zwischen Kranken- und Altenpflege geschlossen werden, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, etwa durch die Steuerbefreiung von Zuschlägen, die Abschaffung geteilter Dienste, die Einführung trägereigener Springerpools und ein Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten für Menschen mit betreuungspflichtigen Kindern.
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Die Leiharbeitsquote in der Pflege sei einer Auswertung der Bundesagentur für Arbeit von Mai 2022 zufolge in den letzten Jahren konstant geblieben.
„Die Einführung eines Preisdeckels wäre sehr begrüßenswert. Die Leasingkosten müssten zudem über die Pflegesätze oder einen Risikozuschlag refinanziert werden. Die Betreiber werden hier in keiner Weise unterstützt oder geschützt. Die Problematik wird auf die Träger abgewälzt. Ob die Abschaffung der Leiharbeit eine Lösung ist, kann aus unserer Sicht nicht objektiv beurteilt werden“, erklärt BSH-Sprecherin Alicia Pieper. „Wir sehen Bund und Länder in der Pflicht, diesen Personalbeschaffungsmarkt im Pflegebereich zu reglementieren“, heißt es überdies bei der Diakonie Mark-Ruhr.
Kostenobergrenze als Idee
Und bei Wohlbehagen sieht man diesen Lösungsansatz: „Kostenorientierung und Kostenobergrenze. Sämtliche Einrichtungen sind gesetzlich verpflichtet, die Vergütung ihrer Mitarbeiter tarifgerecht zu leisten. Ein valider Vergleichslohn besteht daher bereits und kann zur Kostenorientierung und zur Ermittlung einer Kostenobergrenze genutzt werden.
In der Pflegereform wird nun vorgeschrieben, dass Einrichtungen die Mehrkosten für den Einsatz von Leiharbeitern nicht den Pflegekassen in Rechnung stellen dürfen. Obergrenze sind die Tariflöhne. Auch Vermittlungsgebühren für die Zeitarbeitsfirmen dürfen nicht weitergereicht werden.
Nur ein Interessenverband reagiert direkt
Die WESTFALENPOST hatte mehrere Zeitarbeitsfirmen in der Region kontaktiert und um Stellungnahmen zur Leiharbeitsproblematik in der Pflege gebeten. Einzig der Felten Personalservice reagierte und verwies darauf, dass der Arbeitgeberverband, genauer der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen“ die Fragen beantworten werde. Von dort heißt es: „Wer eine Zeitarbeitsfachkraft einsetzt, spart andererseits nicht nur seine finanziellen und zeitlichen Mittel für Akquise und Recruiting, sondern ist abseits von Kündigungsfristen auch noch frei in der Wahl der Einsatzdauer, denn der Zeitarbeitnehmer ist Angestellter des Zeitarbeitsunternehmens.“
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Der Vorwurf überhöhter Kosten bei der Überlassung entbehrt jeder Grundlage. Das überlassende Zeitarbeitsunternehmen zahlt nicht nur das Gehalt der Fachkraft, sondern kommt auch für sämtliche sozialen Abgaben des Arbeitnehmers auf“, erklärt Verbandssprecher Wolfram Linke.
In der Diskussion um den Einsatz vor Zeitarbeitsbeschäftigten in der Pflege insgesamt würden die Fakten immer mehr ins Abseits zu geraten drohen. „An erster Stelle steht dabei das „Ausmaß“ von Personaldienstleistung in der Pflegebranche – die Bundesagentur für Arbeit stellt dazu regelmäßig fest, dass sich der Anteil der Zeitarbeitnehmer in der Pflege auf einem unauffälligen Niveau etabliert hat: In der Praxis bedeutet das, dass 2,2 Prozent der in der Pflege Beschäftigten Zeitarbeitskräfte sind. Tendenz steigend, und das aus gutem Grund: Der gefühlte Anstieg der nominalen Anzahl ist dem Anwuchs der Beschäftigten in der Pflege generell geschuldet“, so Linke.
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Laut einer Umfrage des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) unter 4000 Zeitarbeitskräften im Bereich Pflege würden die Ergebnisse deutlich machen, dass für den Wechsel in die Zeitarbeit die Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser ein großer Teil selbst die Verantwortung tragen würden, weil Pflegekräfte sich dort nicht wertgeschätzt fühlen würden, zu wenig Einfluss auf ihre Dienste hätten und nicht leistungsgerecht vergütet würden. „Das bedeutet, die Pflegekräfte in Zeitarbeit sind nicht nur ausreichend qualifiziert, sondern auch motivierter als die Stammarbeitnehmer der Pflegeunternehmen“, so Wolfram Linke.
Zeitarbeit biete, wie in den anderen Wirtschaftsbranchen auch, ihre klassischen Services und agiere dabei quasi „als Feuerwehr der Pflegebranche“. „Das hat dazu geführt, dass die Fachkräfte die Preise diktieren. Sinnvoller wäre es, in Aus- und Weiterbildung zu investieren, dann regelt sich der der Markt von allein. Die Personalvermittlung ist nicht ursächlich für den Mangel. Vielmehr sind nun Politik und Pflegebranche selbst gefragt“, so Wolfram Linke