Hagen. 64 Erwachsene lernen derzeit am Varnhagen-Kolleg in Hagen Deutsch. Es sind fast ausschließlich Frauen. Eine von ihnen erzählt ihre Geschichte.

Der 24. Februar wird für immer eingebrannt bleiben ins ukrainische Nationalbewusstsein. Am 24. Februar 2022 überfiel Putins Russland den Nachbarstaat. Am 24. Februar 2023 wäre sie nicht in der Lage gewesen, einem Journalisten Rede und Antwort zu stehen, sagt Tetyana Ropatan (43) unter Tränen: „Ich bin eine emotionale Frau. Am 24. Februar hat man mir mein Leben genommen.“

Wir treffen uns eine Woche nach dem Jahrestag. Tetyana Ropatan ist dabei, sich ein neues Leben aufzubauen. Mit ihrem Sohn und ihrer Mutter ist sie im März vergangenen Jahres aus Odessa nach Deutschland geflohen.

Am Rahel-Varnhagen-Kolleg, einer Weiterbildungseinrichtung in Hagen für Menschen, die das Abitur, das Fachabitur oder den Realschulabschluss nachholen wollen, unterrichtet sie Deutsch für Landsleute, die wie sie vor dem Krieg aus ihrem Heimatland geflohen sind. „Die Frauen, wie tapfer sie sind“, sagt sie.

Für ein neues Leben und für die Kinder

64 Erwachsene besuchen die Deutschkurse am Rahel-Varnhagen-Kolleg, es sind fast ausnahmslos Frauen. Einige haben alles verloren. Eine Frau aus dem von den Russen zerstörten Mariupol ist mit nichts als dem nackten Leben in Deutschland angekommen. „Ich weine jeden Tag, weil ich viel verloren habe“, sagt Tetyana Ropatan: „Aber andere Frauen haben noch viel mehr verloren.“

Die Lehrerinnen Bogumila Kroll und Tetyana Ropatan mit Frauen aus der Ukraine, die in Hagen Deutsch lernen möchten.
Die Lehrerinnen Bogumila Kroll und Tetyana Ropatan mit Frauen aus der Ukraine, die in Hagen Deutsch lernen möchten. © WP | Michael Kleinrensing

Die Männer sind in der Ukraine geblieben, um ihr Land zu verteidigen. Die Frauen sind bei uns. Sie legen nicht die Hände in den Schoß, das widerspräche der ukrainischen Mentalität. Sie kämpfen für ein neues Leben und für ihre Kinder, die sie mitgebracht haben.

Vielen dieser Frauen prophezeit Christine Preuß, die Leiterin des Rahel-Varnhagen-Kollegs, haben gute berufliche Perspektiven: „Die Frauen aus der Ukraine bringen viel Berufserfahrung mit oder einen akademischen Hintergrund. Sie sind viel besser ausgebildet als die Zugewanderten aus anderen Ländern, in denen die schulische Ausbildung noch nicht so fortgeschritten ist.“

Ukrainischer Vater, russische Mutter

Tetyana Ropatan vermisst das Schwarze Meer: „Odessa ist eine wunderbare, einzigartige Stadt. Eine Multi-Kulti-Stadt, in der Menschen aus 136 Nationen leben. Es ist eine europäische Stadt. Dort ist mein Sohn zur Welt gekommen, dort bin ich groß geworden.“ Sie hat vom ersten Schultag an Deutschunterricht gehabt, später Deutsch studiert und schließlich 20 Jahre lang als Deutschlehrerin gearbeitet. Bis der Krieg begann.

Man kann sagen, sie ist ein Beispiel für den inneren Konflikt, der diesen Krieg antreibt. Tetyana Ropatan hat einen ukrainischen Vater und eine russische Mutter, sie wurde in Russland geboren, sie bezeichnet Russisch als ihre Muttersprache. Aber sie identifiziert sich voll und ganz als Ukrainerin: „Wir waren eine russisch-ukrainische Familie, aber das sind wir nicht mehr.“

Den Kontakt zu ihrer Verwandtschaft mütterlicherseits in Russland hat sie abgebrochen, nachdem sie sich am Telefon unschöne Dinge anhören musste, von denen sie nicht geglaubt hätte, dass man sie ihr an den Kopf werfen könnte. Nur mit der 89-jährigen Großmutter telefoniert sie noch: „Viele Familien sind durch diesen Krieg kaputt gegangen.“

Keine Pläne mehr, keine Träume

Und wie es den Familien erging, so sei es auch den Völkern ergangen, sagt Tetyana Ropatan. Russen und Ukrainer seien im Grunde eine Familie gewesen: „Aber das sind wir nicht mehr.“ Egal wann der Krieg ende, der Hass und die Wut würden noch lange danach anhalten. Momentan sei nur eines von Belang: „Dass die Ukraine den Krieg gewinnt.“

Ihr Sohn, der ebenso gut Deutsch spricht wie die Mutter, macht eine Ausbildung zum IT-Spezialisten. Sie ist froh, ihn vor dem Krieg gerettet zu haben. Sie will keine Pläne machen. Bis zum 23. März 2022 habe sie noch Pläne und Träume gehabt. „Jetzt nicht mehr. Niemand kann sagen, was morgen passiert.“ Und sie fügt hinzu, ihr Körper sei hier in Deutschland, aber ihre Seele sei in der Ukraine geblieben.

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Und sie telefoniert mit Freunden in Odessa. Manchmal unterbrechen diese das Gespräch, weil Luftalarm ausgelöst wurde, dann wartet Tetyana Ropatan in banger Stimmung mit dem Hörer am Ohr, bis ihre Freunde den Bunker verlassen und das Telefonat wieder aufnehmen.

Und während sie in Hagen um das Leben der ihr lieben Menschen fürchtet, sagen diese: „Wir haben uns daran gewöhnt.“ Aber es dürfe doch nicht sein, sagt Tetyana Ropatan, dass Luftalarm im Leben als etwas Selbstverständliches angesehen werde.