Hagen. Der Zuzug von Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und EU-Zuwanderern belastet Hagen. Die Stadt fordert daher eine faire Betrachtung ein.
Die anhaltende Zuwanderung nach Hagen führt die Stadt zunehmend an ihre Belastungsgrenzen. Neben den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine finden seit Frühjahresbeginn zunehmend auch wieder Asylbewerber vorzugsweise aus Syrien, Afghanistan, Iran sowie den Erdbebenregionen der Türkei und demnächst womöglich auch Schutzsuchende aus dem Sudan den Weg nach Mitteleuropa. „Wir sind an der Grenze des Machbaren“, unterstreicht Hagens Schul- und Sozialdezernentin Martina Soddemann und Oberbürgermeister Erik O. Schulz wird im Einklang mit dem Städtetag und mit Blick auf den Zuwanderungsgipfel am Mittwoch, 10. Mai, im Bundeskanzleramt nicht müde, externe Hilfe einzufordern: „Wir werden das nicht schaffen, wenn Bund und Land uns nicht helfen.“ Zeit für eine aktuelle Bestandsaufnahme zur Situation in Hagen.
„Das ist schon ein Thema, das die gesamte Stadtgesellschaft bewegt“, blickt der Verwaltungschef gleichermaßen auf die Flüchtlinge aus der Ukraine, die von den Bürgern weiterhin mit großer Solidarität begleitet würden, wie auch auf die Asylsuchenden, denen die Menschen aufgrund anderer Hautfarben und Religionen mit größerer Zurückhaltung begegneten. Hinzu kommen obendrein noch die Migrationsbewegungen aus Südosteuropa: „Das ist aber eben nicht nur freizügige Arbeitsmigration, sondern auch Einwanderung in die Sozialsysteme.“
Mit dem Sommer wächst Zustrom
Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge zählte Hagen in diesem Jahr bislang 113 Menschen – davon 46 aus der Ukraine –, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 572 asylsuchende Frauen, Männer und Kinder plus 1688 Ukrainer. In Summe kommt Hagen hier auf einen Gesamtbestand von 2358 Personen. „Allerdings kann niemand seriös sagen, wie sich mit den jetzt erst kommenden wärmeren Monaten diese Zahlen weiterentwickeln“, stochert Soddemann hier faktisch im Nebel. Hagen erfüllt laut Zuweisungsschlüssel seine Quote zurzeit zu 90,5 Prozent, hat somit also theoretisch noch Raum für 247 Menschen vorzuhalten.
Dabei kann die Stadt bislang weitgehend darauf verzichten, Menschen in großen Turn- und Logistikhallen oder gar Zelten unterzubringen. Sammelunterkünfte befinden sich jedoch im Reservestatus. Stattdessen hat Hagen mit dem Kriegsbeginn im Jahr 2022 exakt 136 Wohnungen angemietet, wobei hier neben Privatleuten vor allem die Wohnungsgesellschaften sehr konstruktiv mit der Stadt kooperieren. 25 weitere Anmietungen sind in diesem Jahr hinzugekommen: „Wir brauchen hier endlich verlässliche Perspektiven, die zurzeit weder von Bund noch vom Land formuliert werden“, bleibt es für die Sozialdezernentin eine Rechnung mit zu vielen Unbekannten.
Belastung für Infrastruktur
Zugleich erinnert sie daran, dass die Zuwanderung ja nicht bloß die Wohnungssituation betreffe, sondern die gesamte kommunale Infrastruktur der Stadt, vorzugsweise Kitas, Schulen und offenen Ganztag. Hier wurde die Schulentwicklungs- und die Kindergartenbedarfsplanung völlig auf den Kopf gestellt. „Das ist eine schwierige öffentliche Debatte“, meint Schulz. „Es macht keinen Sinn, die Zuwanderung als das einzige Problem in der öffentlichen Infrastruktur zu bezeichnen. Wahr ist aber auch: Wir wären auf einem guten Weg, wenn uns dieses Thema nicht so überrollt hätte. Letztlich muss man es erst einmal hinbekommen, in wenigen Jahren 20 Kitas aus dem Boden zu stampfen.“ Dennoch möchte der OB jegliche Neiddiskussionen vermeiden, dass beispielsweise Kinder in dieser Stadt angeblich keinen Kita-Platz bekommen, weil es die Zuwanderung gebe. „Schließlich wird auf der anderen Seite die Zuwanderung propagiert, wenn es um die Gewinnung von Fachkräften geht.“
„Wir brauchen eine Debatte, die die Gesamtbelastung betrachtet“, erinnert der Verwaltungschef daran, dass in den meisten Städten beispielsweise die EU-Zuwanderung bei weitem nicht so ausgeprägt sei wie in Hagen, wo sich zurzeit 7300 Rumänen und Bulgaren aufhalten. „Wenn man einen gerechten Belastungsausgleich bei den Kommunen haben will, muss man diese Menschen mitbetrachten, ohne dass ich damit die Gruppen gegeneinander ausspielen möchte.“ Nur so lässt sich die grundgesetzliche Forderung nach gleichen Lebensverhältnissen auch tatsächlich umsetzen. „Das wirkt sich in einer Kommune auf Geld, Infrastruktur, Kita, Schule, Wohnen, Plätze, Spielflächen, Personal, Sozialarbeit, Wohlfahrt, Gesundheitsvorsorge, etc. aus. Wenn Land und Bund wie beim Länderfinanzausgleich auch die Aufgabe haben, Belastungen und besondere Situationen auszugleichen, dann muss es eine Gesamtbetrachtung in den Kommunen geben.“
Fairer Blick auf Städte gefordert
„Es gibt zwar einige spezifische Förderprogramme, aber eine Gesamtbetrachtung der EU-Zuwanderung in ihrer ganzen Differenziertheit gibt es nicht“, appelliert Soddemann ebenfalls zu einer Kurskorrektur vor allem mit Blick auf die Armutszuwanderung. „Das wäre aber sehr zu wünschen, weil das Thema inzwischen zu einer Daueraufgabe geworden ist, für die es keine Infrastruktur gibt.“ Dabei weiß der Oberbürgermeister sehr genau, dass es in manchen Städten, in denen bulgarische und rumänische Gruppen fast keine Rolle spielen, es überhaupt kein Interesse gibt, diese Personengruppen mitzudenken. Entsprechend versucht Hagen sich hier bei Städten wie Oberhausen, Duisburg, Herne oder auch Dortmund unterzuhaken, um sich hier gemeinsam mehr Gehör zu verschaffen.
„Bund und Land müssen uns helfen“, macht der OB deutlich, dass angesichts der hohen Altschuldenlast, steigender Zinsen, Extra-Kosten der Unterkunft sowie bei Personal und Energiekosten eine Stadt wie Hagen das Zuwanderungsthema nicht aus eigener Kraft stemmen wird: „Dabei darf auch nicht mit dem Kalkül gespielt werden, dass es sich lediglich um einzelne Hotspots in NRW handele.“ Wobei Geld alleine die Probleme auch nicht löst, solange die Fachkräfte beispielsweise für die Kinderbetreuung oder auch die Sprachförderung Mangelware sind.
Gleichzeitig, so der Blick des Oberbürgermeisters auf den Termin bei Bundeskanzler Olaf Scholz, müsse auch deutlich gemacht werden, dass Europa eine Solidargemeinschaft sei, bei der die Lasten der Zuwanderung dringend gleichmäßiger verteilt werden müssten. „Bis dahin brauchen wir aber die Lösungen vor Ort – und zwar jetzt“, sieht Soddemann zunächst Land und Bund finanziell in der Pflicht. Zudem braucht sie verlässliche Signale, auf welche Zuwanderungszahlen die Stadt sich mittelfristig einzurichten hat, um gestalten zu können.