Hagen. Hagen hat den größten Migrantenanteil in NRW und jetzt auch einen Fachbereich für Integration – ein Interview mit der Leiterin Natalia Keller.
Die Hagener Stadtgesellschaft ist vielfältiger denn je. Daraus ergibt sich für die Verantwortlichen im Rathaus die Herausforderung, den Integrationsprozess und die Zuwanderung aktiv gestalten zu müssen. Um diesen Themenkomplex zu bündeln, hat Oberbürgermeister Erik Schulz den Fachbereich „Integration, Zuwanderung und Wohnraumsicherung“ formiert, der von Natalia Keller geleitet wird. Im Gespräch der Woche spricht die 46-Jährige, die eigene Zuwanderungserfahrungen gemacht hat, über ihre Ziele.
43,3 Prozent der Hagener haben eine Migrationsgeschichte – ist das eigentlich eine gute Nachricht?
Natalia Keller Wenn man überlegt, welche Potenziale diese Menschen mitbringen, ist das eine gute Nachricht. Letztlich wächst die Stadt Hagen zuletzt vor allem aufgrund der Migranten, die zu uns kommen. Diese Potenziale können wir nicht nur in der Berufswelt nutzen, sondern profitieren davon auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen.
So wird es allerdings oft nicht empfunden. Viele Bürger sehen diese NRW-weit höchste Quote eher als einen Makel. Woran liegt das?
Das sind unterschiedliche Weltbilder, die da aufeinandertreffen. Viele Menschen setzen sich mit dem Thema nicht ausreichend auseinander. Migration und Integration wird immer mit Nachteilen gleichgesetzt. Wir müssen allerdings system- und migrationsspezifische Barrieren abbauen und die strategische Bedeutung der Regelsysteme hervorheben. Bildung und Qualifizierung sowie Zugang zum Arbeitsmarkt sind immer entscheidende Schlüssel, um sich ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben zu ermöglichen.
Dazu gehört aber auch die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, oder?
Sehnsucht für die Ferne
Als Urlaubsziel favorisiere ich…
die Seychellen, weil ich ein absoluter Fernreisen-Fan bin. Und die Seychellen sind einfach faszinierend. Zuletzt war ich dort mit Freunden auf einem Katamaran zehn Tage auf dem Wasser unterwegs. Ich lerne eben immer gerne neue Menschen und Kulturen kennen.
Wenn ich einen Tag Oberbürgermeisterin wäre…
würde ich das Thema Integration als Querschnittsaufgabe in dieser Verwaltung verankern. Wir müssen in unserem Verwaltungstun ein Spiegel der Gesellschaft werden.
Für den Fachbereich brauche ich noch unbedingt…
mehr Personal, wie ich gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme aus der Ukraine feststelle. Nicht nur der Sozialdienst für Flüchtlinge, sondern auch die Unterkunftsverwaltung und die Leistungsgewährung sind hier gerade vollkommen ausgelastet. Wir bedienen eine Zielgruppe gerade maximal, so dass wir andere Aufgaben ein wenig aus den Augen verlieren. Grundsätzlich wäre es schön, wenn wir nicht immer bloß als Feuerwehr auftreten, um irgendwelche Herde zu löschen, sondern öfter präventiv wirken könnten.
Es gibt auch unter den Deutschen bildungsaffine Menschen und weniger Engagierte – das ist in jeder Nation gleich. Ich bin überzeugt, dass die Eltern – unabhängig vom eigenen Bildungshintergrund – immer das Beste für ihre Kinder wollen. Wenn wir die Mädchen und Jungen entsprechend begleiten, eröffnet sich der Weg zu besseren Bildungschancen und sie machen auch etwas aus sich. Hier zeigt sich wieder, dass Integration eine Querschnittsaufgabe ist, bei der vor allem die Potenziale gesehen werden müssen.
Warum hat es dann so lange gedauert, bis Ihr Fachbereich für Integration überhaupt formiert wurde?
Den Wunsch gibt es schon länger, das Aufgabenspektrum aufzuwerten. Bereits 2019 haben wir uns auf den Weg gemacht, das ist eben keine Kleinigkeit. Jetzt haben wir die Bereiche und Projekte, die zum Teil auch nebeneinander gearbeitet haben, zusammengefügt. Damit sind wir auf jeden Fall stärker geworden. Das Thema hat auch landespolitisch an Bedeutung gewonnen. Ich hätte mir gewünscht, dass es schon ein, zwei Jahre früher passiert, aber andere Kommunen sind da auch nicht unbedingt weiter.
Lohnt es sich überhaupt, einen besonderen Fokus auf EU-Zuwanderer aus Südosteuropa zu legen, wenn diese oft nach drei bis sechs Monaten wieder spurlos verschwinden?
In der Integrationsarbeit muss man eine gewisse Frustrationstoleranz mitbringen. Es ist aber keineswegs so, dass diese Menschen alle nach kurzer Zeit wieder weg sind. Es gibt hier zwar reichlich Zu- und Abwanderung, aber es bleiben auch viele sesshaft. Es gibt beides. Deshalb versuchen wir mit unserem Case-Management im Rahmen des Kommunalen Integrationsmanagements diese Menschen gezielt an die Hand zu nehmen.
Was können die Case-Manager besser als ihre bisherigen Bemühungen?
Das Kommunale Integrationszentrum hat bislang so gearbeitet, dass wir die Systeme – also beispielsweise Kita-Personal oder Lehrkräfte – mit gezielten Fortbildungen stark gemacht haben. Das Case-Management arbeitet mehr operativ vor Ort und führt jetzt individuell die Menschen an unsere Systeme heran. Wir versuchen aus der Perspektive der Menschen Stolpersteine zu identifizieren und aus dem Weg zu räumen. So werden auf beiden Seiten Ansprüche und Bedürfnisse besser erkannt. So können wir unsere Arbeit viel zielgerichteter anpassen, damit der Einsatz auch tatsächlich gelingt. Das machen wir auch nicht allein, sondern das Land und die Wohlfahrtsverbände sind auf diesem Weg mit im Boot.
Ist denn die Zusammenarbeit mit Kitas und dem Schulressort an dieser Stelle nicht mindestens genauso wichtig?
Da wir aus dem Fachbereich Jugend und Soziales kommen, ist die Verknüpfung mit der Kindergartenabteilung ohnehin sehr eng. Mit dem Fachbereich Schule arbeiten wir ebenfalls seit Jahren zusammen. Hier gibt es einen regelmäßigen Austausch mit den Kollegen, und wir erarbeiten auch gemeinsame Konzepte. Zudem sind Qualifizierung und Arbeit ein wichtiges Thema. Hier gibt es einige Projekte, die wir mit dem Jobcenter, der Agentur für Arbeit und anderen Akteuren machen. Aber da gibt es in meinen Augen bislang noch zu wenig. Auch hier wird das Kommunale Integrationsmanagement für qualifizierte Begleitung durch Case-Manager sorgen und helfen, maßgeschneiderte Schritte zu finden.
Case-Management bedeutet bei Thema Integration somit, den Blick auf die gesamte Familie – also alle Altersgruppen – zu werfen?
Ja, und genau das ist jetzt neu. Hier entstehen zurzeit neue Netzwerke und Kommunikationsgruppen auch auf Leitungsebenen, um das kommunale Integrationsmanagement weiterzuentwickeln und die grundsätzliche Funktionsfähigkeit der Systeme zu beleuchten. Es geht eben darum, Integration als Querschnittsaufgabe zu verfestigen.
Gibt es diese Verknüpfungen auch zu Ordnungsamt und Polizei?
Die sitzen jetzt nicht mit in dieser Lenkungsgruppe, aber wir sind beispielsweise gerade mit dem Fachbereich des Oberbürgermeisters und dem Ordnungsamt dabei, das kommunale Konfliktmanagement aufzubauen. Das ist ein neues Programm, für das wir im März den Bewilligungsbescheid bekommen haben. Hier geht es darum, bei auftretenden Konflikten nicht bloß die Feuerwehr spielen zu müssen, sondern die Menschen vorab proaktiv zu qualifizieren, Konfliktfelder im Vorfeld zu identifizieren und zu entschärfen – wobei das nicht ausschließlich auf die Migrationsproblematik ausgerichtet ist. Hier werden wir von der Mercator-Stiftung und der Uni Essen/Duisburg begleitet.
Wann kommt für Sie eigentlich der Punkt, an dem Sie sagen „Hagen kann keine weiteren Migranten mehr vertragen“?
Dem Thema Integration eng verbunden
Natalia Keller (46) ist geschieden und Mutter einer bereits erwachsenen Tochter. Sie stammt gebürtig aus der ehemaligen Sowjetunion (Kasachstan). Als sie im März 1993 auf Initiative ihrer Mutter als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam, war das bereits die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
Als 17-Jährige kam sie mit ihrer Familie zunächst in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Unna-Massen, bevor sie ihr Weg über mehrere Stationen in Nordrhein-Westfalen schließlich aufgrund eines beruflich prägenden Anerkennungsjahres in ein Jugendzentrum nach Hagen führte.
Ihre Schulausbildung beendete Natalia Keller noch in der Sowjetunion, musste jedoch in Deutschland mangels Anerkennung ihr Abitur nachmachen. Hier schloss sich letztlich bis zum Jahr 2000 ein Sozialpädagogik-Studium an.
Ihr beruflicher Werdegang führte die heute 46-Jährige unter anderem von den Jugendzentren in Rummenohl und Boele über die Agentur-Mark hin zur kommunalen Integrationsarbeit. Als Leiterin der Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA) trug sie wesentlich dazu bei, dass die RAA in das Kommunale Integrationszentrum umgewandelt wurde.
Zuletzt leitete Natalia Keller im Fachbereich Jugend und Soziales die Abteilung „Angebote für Kinder, Jugendliche und junge Menschen“ bei der Stadt Hagen.
Der Punkt wird für mich nicht kommen. Mein Ansatz ist, dass Hagen eines Tages erkennt, dass wir eine Migrationsgesellschaft sind und wir die Potenziale sehen, die da mitgebracht werden. Wir lernen und profitieren voneinander – und dann stellt sich die Frage auch gar nicht mehr. Daran müssen wir arbeiten, dass man wertschätzend und antirassistisch miteinander umgehen kann – das ist auch ein ganz großes Thema. Wir müssen unsere Vorurteile viel mehr reflektieren und somit unser Bild voneinander verändern.
Sehen Sie eigentlich die Hagener Migranten in den ISEK-Prozess – also die Gestaltung „Hagen plant 2035“ – ausreichend berücksichtigt?
Der Vorsitzende des Integrationsrates war als Sprecher der Migrantenorganisationen in die Prozesse mit eingebunden…
Das ist jetzt aber sehr formalistisch gedacht. Sollten die Impulse nicht die Bürger liefern?
Bei meinem früheren Job, nämlich der Projektleitung „Soziale Stadt Wehringhausen“, haben wir die Migrantenvertreter bei den Bürgerkonferenzen direkt mit einbezogen oder sie haben sich selbst gemeldet. Hier werden wir unsere Netzwerke künftig sicherlich noch gezielter einbringen können.
Der ISEK-Zug ist jetzt aber doch schon losgefahren – müssten da die Migranten mit ihren Interessen und Bürgerwünschen nicht noch ganz dringend aufspringen?
Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, bei denen der Migrantenanteil ja sogar noch höher ist, hat durchaus stattgefunden. Dabei haben wir festgestellt, dass die Themen sich gar nicht unterscheiden. Aber es wird sicherlich noch so sein, dass man die Kulturen und Religionen anders mit einbezieht.
Bietet der neue Fachbereich denn zugleich die Chance, sich mit etwas mehr Schwung in den ISEK-Prozess einzubringen?
Ich bin überzeugt, wir sind in der Zukunft mit lauteren Stimmen bei vielen Themen in der Stadt wahrnehmbar. Das ist auch meine ganz persönliche Zielsetzung.
ISEK ist ja vor allem ein Stadtentwicklungsprozess. Haben Sie die Sorge, dass beispielsweise in Altenhagen, Wehringhausen oder auch Teilen von Haspe mittelfristig eine Gettoisierung droht?
Stadtentwicklung ist ein Thema, das mir aufgrund meiner Erfahrungen aus Wehringhausen durchaus wichtig ist. Es wäre zielgerichteter, wenn die Stadtentwickler nicht allein planen, sondern tatsächlich im Geiste von ISEK alle kommunalen Ressorts mitdenken. Wenn man in bestimmten Bereichen keine soziale Durchmischung hat, wird dies unter anderem dazu führen, dass dort bestimmte Menschen sich ansiedeln. Das muss nicht grundsätzlich schlecht sein, aber es geht um die Balance. Es ist zunächst einmal eine ganz natürliche Reaktion, dass Menschen sich dort ansiedeln, wo sie auf mehr Landsleute treffen. Allerdings wird dies erst zum Problem, wenn man diese Gruppe sich selbst überlässt. Deshalb ist es wichtig, für eine Durchmischung zu sorgen, um dort den sozialen Frieden zu wahren.
Macht Ihnen diese Aufgabe manchmal auch Angst?
Nein, das nicht. Aber es ist natürlich nicht einfach, und es gibt schon dicke Bretter, die noch zu bohren sind. Daher brauchen wir eine Mischung aus Frustrationstoleranz und dickem Fell. Ich bin aber auch froh und dankbar, die Möglichkeit bekommen zu haben, das mitzugestalten. Weil ich nämlich weiß, wie es ist, wenn man sich in der Migrantensituation befindet. Ich weiß, was mir gefehlt hat, als ich damals nach Deutschland kam. Ich würde mir nur wünschen, dass die Menschen nach Jahrzehnten endlich bessere Bedingungen vorfinden, um in die Gesellschaft integriert zu werden. Denn jeder bringt eben auch Potenziale mit – das ist mein großes Stichwort.