Hagen. Der anhaltende Abwärtstrend in der Hagener Innenstadt ist unübersehbar. Höchste Zeit für eine Bestandsaufnahme bei einem Stadtbummel.
Eines ist sicher: Viele Nackenschläge kann die Hagener Innenstadt nicht mehr verkraften, bevor sie im Tal des Vergessens zu versinken droht. Städtebaulich ist die Fußgängerzone schon seit Jahrzehnten aus der Zeit gefallen, die Corona-Pandemie entpuppte sich nicht bloß als Umsatzbremse, sondern katapultierte zugleich den Online-Handel selbst in die Köpfe all derer, die sich diesem Teufelswerk bislang standhaft verweigerten. Obendrein machte die Jahrhundertflut den Shopping-Galerien als größten Kundenmagneten zumindest temporär den Garaus, von dem die beiden ohnehin schon strauchelnden Center sich absehbar kaum erholen dürften.
Parallel hat die Leerstandsdichte zwischen Schwenke und Johanniskirchplatz vor dem Hintergrund der anhaltenden Kaufzurückhaltung in einer anhaltenden Hochinflationsphase schleichend und zugleich bedenklich zugenommen. Die Schließung des Galeria-Kaufhof-Komplexes in bester 1A-Lage bildet hier zur Jahresmitte den vorläufigen Höhepunkt – wer weiß wo die Rathaus-Galerie-Insolvenz mittelfristig hinführt. Höchste Zeit, bei einem Schaufensterbummel mal einen ganz subjektiven Blick aus der Perspektive des Kunden auf das Flair in der City zu werfen.
Thema bei ZDF-Satiriker
Zuletzt nutzte sogar der Entertainer und ZDF-Satiriker Jan Böhmermann die Hagener Fußgängerzone beispiel- und wenig schmeichelhaft als Synonym für Geisterstädte, deren Besuch lediglich Hartgesottene noch als Einkaufserlebnis empfinden dürften. Höchste Zeit, mal als Eingeborener den aktuellen Charme auf sich wirken zu lassen. Wobei es am späten Vormittag gar nicht so einfach ist, über die Badstraße die klassische Fußgängerzone zu erreichen. Denn die reichlich vor dem Sparkassen-Karree pendelnde Busflotte wird noch durch Radler, verspätete Lieferanten und ungezählte Taxi-Fahrten verdichtet. An den Haltstellen sind die Bürgersteige für Passanten schon fast zu schmal, wenn parallel die Fahrgäste sich in und aus den Bussen drängen.
Am Taxi-Stand am Rande des Friedrich-Ebert-Platzes wird es dann richtig eng: Rangierende Mietwagen-Chauffeure teilen sich die Spur mit Krankentransport-Fahrzeugen, die Patienten in die angrenzenden Arzt- und Physio-Praxen bringen. Parallel hat noch ein BMW-Fahrer entschieden, seinen Wagen oberzentral zu parken, während eine weitere Frau dreist ihr Auto abstellt, um Briefe in diverse Postkästen am Platz zu verteilen. Auch die Fahrradständer, deren Zahl in Hagen nicht gerade üppig bemessen erscheint, sind allesamt schon gut belegt.
Nager vor Urban-Charme
Durch die picobello gefegte Hohenzollernstraße führt der Weg am WP/WR-Leserladen vorbei in Richtung Volkspark. Die Bänke entlang des Weges in die zentrale Grünanlage sind alle leer, so dass eine Nager-Familie sich traut, das Grün des angrenzenden Hochbeets raschelnd nach Essbarem zu durchstreifen. Die Grundstücksmauer im Hintergrund hat ihre weiße Farbgebung längst der Graffiti-Szene opfern müssen – man könnte wohlwollend von Urban-Charme sprechen. Ob der Hausbesitzer das genauso sieht?
Ein Team des Wirtschaftsbetriebes Hagen, das gerade den Rasen rund um die Brunnenanlage gemäht und den gröbsten Unrat vom Spielplatz gegenüber dem Eiscafé entfernt hat, setzt frisches Grün in die Rabatten. Die versonnen in die Ferne blickende Skulptur des „Sitzenden Jungen“ (von Heinrich Holthaus) am Rande des Wasserspiels gibt zumindest einen Vorgeschmack darauf, dass es sich hier bei Sonnenschein prima aushalten lässt. Mitte April bleiben derweil die stählernen Gitter-Sitzbänke am Platz vor der Konzertmuschel noch meist verwaist – deren Wohlfühlkomfort liegt ohnehin knapp über Nagelbrett-Niveau.
Wo die Zeit stehen geblieben ist
Der Adolf-Nassau-Platz mit Waschbeton-Poller-Einfassung dient derweil nur dem zügigen Darüberhinweglaufen. Zum 70er-Jahre-Charme passt eine letzte Telefonzelle, deren Display informiert: „Entschuldigung, zur Zeit gestört“ – naturgemäß in alter Rechtschreibung. Die grauen, unglücklich im Weg stehenden Stromkästen harmonieren immerhin perfekt mit der Kolorierung des Bodengrunds. Ein Schild weist darauf hin, dass Bekleben dort verboten sei und strafrechtlich verfolgt werde. Dann eben mit wasserfestem Edding draufschmieren, hat sich offenkundig nicht nur ein „Künstler“ gedacht. Eine Kehrmaschine des HEB sorgt gerade für Bürstenreinheit und saugt sogar einen kompletten Kleiderbügel mit auf. Nur vier aus dem Boden herausgebrochene Pflastersteine bleiben liegen.
Im Sitztrichter des Vier-Flüsse-Brunnens türmt sich derweil unter den Sitzbänken der von menschlichen Ignoranten zurückgelassene Unrat. Der nächste Mülleimer findet sich erst hinter den „Hinkelsteinen“ – was keine Entschuldigung sein darf. Den Bürgersteig in Richtung Theaterplatz versperren Paletten mit Süß- und Knabberwaren, die ein Outlet offenkundig gar nicht so schnell einlagern kann, wie sie ein Lieferant aufgetürmt hat.
Badeschlappen am Wegesrand
Die übrigen Zivilisationsspuren auf dem Weg zum Musentempel lassen sich weitaus bequemer übersteigen: Bäckertüten, Snackpapiere, Kassenbons, Servietten, Kronkorken, Getränkebüchsen und Badeschlappen garnieren am Boden ein bizarres Stillleben, das jedoch vorzugsweise von Zigarettenkippen dominiert wird. Wieso ist es all den Ladenbetreibern eigentlich so egal, wie es vor ihrer Tür aussieht? Vor einem Textiler lehnt eine Mitarbeiterin, die ihre Zigarettenpause für ein erregtes Handytelefonat nutzt. Als sie fertig ist, schnippt sie die Kippe weg – keine Fragen mehr.
Regelrecht sauber wirkt da im Vergleich der Theaterplatz selbst. Hier bekommen vor allem Freunde von Stahl-, Glas- und Beton-Ambiente richtige Wohlfühlemotionen. Nur die Bambus-Blumenkübel eines angrenzenden Burger-Grills durchbrechen das unterkühlte Flair dieser viel zu selten genutzten Fläche mit schönster Abendsonne.
Betteln um Essbares
Weiter die Elberfelder Straße hinauf, lässt die Abfall-Dichte etwas nach, während die Zahl der Bedürftigen steigt: Ein junger Mann mit Base-Cap bittet Passanten im Vorbeigehen um „Kleingeld für Essen“, eine auf dem Pflaster kauernde Frau hofft schweigend auf Bares, während eine auf einer rückenlehnenlosen Sitzpritsche vegetierende Gestalt mit Plastiktüten-Gepäck zu Boden starrt. Sein muffiges Odeur verdammt den Obdachlosen, den die vorbeischlendernde, international parlierende Vielvölkerschar kaum eines Blickes würdigt, zur Einsamkeit.
Dafür bleibt hier kaum ein Laternenmast allein, weil die Metallpfosten mangels Alternativen zum Anketten der Fahrräder genutzt werden. Ein E-Bike-Senior, der gerade sein Zweirad fest gemacht hat, steuert schnurstracks den Kaufhof an – solange es ihn noch gibt. Die schmucken Schaufenster des letzten Hagener Kaufhauses sind längst einer eher schlichten „Alles muss raus“-Plakatierung gewichen. Ein Vorgeschmack auf das, was hier als Dauer-Leerstand zu folgen droht. Ein Ambiente, das nicht gerade dazu einlädt, an den Außengastronomie-Plätzen im Umfeld lange zu verweilen.
Kippen in jeder Pflasterfuge
Vor einem Schuhhaus an der Ecke Mittel-/Marienstraße gibt es auch wieder ein Sitzrondell, auf dem man pausieren kann, ohne für eine gastronomische Serviceleistung bezahlen zu müssen. In jeder Fuge der rustikalen Pflasterung findet sich dort ein Zigaretten-Stummel – Abfalleimer mit Aschenbecher sucht man vergebens.
Weiter in Richtung Johanniskirche hat sich ein Händler doch tatsächlich getraut, einen Kundenstopper vor seinen Laden zu drapieren. Die sind in Hagen verboten – Stolpergefahr. Warum das nicht für nebenan stehende Kleiderständer mit Sonderangeboten gilt, erschließt sich kaum. Augenfällig: Die Unrat-Quote am Boden steigt wieder. Besonders markant: Der meiste Abfall türmt sich vor dem „M12“, Homebase der städtischen Wirtschaftsförderung. Wer über das Morgen nachdenkt, muss sich eben um das Jetzt nicht kümmern.
Modernität motiviert
Mal abgesehen von den plattgewalzten Kaugummis auf nahezu jedem Pflasterstein wird es mit jedem Meter in Richtung Ebert-Platz wieder sauberer. Die Modernität des Platzes gepaart mit den Gestaltungsideen der Gastronomen macht Mut, dass Hagen auch anders kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Mit welchen Schritten diese zukunftsfähig werden könnten, will der Oberbürgermeister in der kommenden Woche präsentieren. Es bleibt spannend für das Oberzentrum Hagen – am Scheideweg zur Geisterstadt.