Hagen. Eine Mutter aus Hannover muss mit ihrem verletzten Kind bis nach Hagen fahren, damit der Junge endlich einen Platz in einer Klinik findet.
Eine Mutter bittet für ihr verletztes Kind um einen Platz im Krankenhaus. Aus der Suche entwickelt sich eine verzweifelte Odyssée. Schließlich muss sie gut 200 Kilometer weit fahren, um in Hagen endlich eine Klinik zu finden, die sich bereit erklärt, den Jungen aufzunehmen.
Der Freitag begann für Miriam Gerlach und ihre Familie in Hannover wie jeder andere: frühstücken, Zeitung lesen, die Kinder zur Schule verabschieden. Doch auf dem Rückweg von der Schule stürzt Ben mit dem Fahrrad, schlägt mit dem Kopf auf. „Blöd und schmerzhaft, aber ein offensichtlich normaler Vorfall im Leben eines Zwölfjährigen“, denkt sich die Mutter zunächst.
Als dem Jungen nachmittags übel wird und er sich übergeben muss, fährt die Mutter ihn um 18 Uhr ins Kinderkrankenhaus nach Hannover. Zwei Stunden später steht fest: Ben hat eine Gehirnerschütterung und wird am Tag darauf das vorgesehene Tischtennisspiel nicht bestreiten können. „Stattdessen schlug die behandelnde Ärztin eine mindestens 24-stündige stationäre Überwachung vor, um eine Hirnblutung auszuschließen“, sagt die Mutter.
Viel Zeit in der Wartehalle verbracht
Der erwarteten Diagnose folgte allerdings eine beunruhigende Überraschung: „Die Ärztin hat uns ernst angeschaut und gesagt, dass sie uns leider kein Bett anbieten, die Klinik sei voll belegt. Aber man bemühe sich um einen Platz in einem anderen Kinderkrankenhaus.“
Miriam und Ben Gerlach setzten sich in die Halle und warteten. Nach eineinhalb Stunden erhielten sie die Auskunft, sechs andere Kliniken im Umkreis hätten mit Verweis auf fehlende Kapazitäten abgesagt, man warte aber noch auf eine Rückmeldung aus Walsrode.
Walsrode? Das wäre 60 Kilometer entfernt von Hannover. Kurz darauf die Absage. Kein Bett frei. Hamburg? Die Krankenhäuser in Hamburg seien dermaßen überbelegt, dass sie selbst in Hannover nach freien Betten forschten, erhielt die Mutter zur Auskunft: „Als nächstes wollte man in Osnabrück anfragen.“
Entscheidung für lange Fahrt nach Hagen
Im Kopf der Mutter breitete sich eine Art perplexe Leere aus: „Was war das für eine paradoxe Situation, in der mein Sohn und ich uns befanden? Er mit Kopfschmerzen, nichts im Magen, sollte medizinisch beobachtet werden, es war Freitagabend um 21.30 Uhr und weil in unserer Stadt kein Bett für die Nacht frei war, sollen wir gut eineinhalb Stunden nach Osnabrück fahren – sofern sie Ben dort überhaupt aufnehmen könnten.“
Miriam Gerlach, die aus Hohenlimburg stammt, nahm die Sache nun selbst in die Hand. Sie bat um eine Anfrage in Hagen: „Immerhin haben wir dort Verwandtschaft und kennen uns in der Stadt aus.“ Die Fahrt wäre außerdem nur eine halbe Stunde länger als bis Osnabrück und die Strecke über die A2 bekannt.
Risiko nachts besonders hoch
Tatsächlich bestätigte ihr kurz darauf ein anderer Arzt, das Allgemeine Krankenhaus in Hagen habe grünes Licht gegeben. Die Mutter wollte wissen, ob die Unterbringung wirklich notwendig sei und wie es zu diesem Zustand kommen konnte? Die Wahrscheinlichkeit einer Hirnblutung sei relativ gering, habe der Arzt geantwortet, aber das Risiko sei nachts, wenn Ben schlafe, besonders hoch, daher würde er eine Überwachung dringend anraten.
Keine Mutter dieser Welt wäre nach einer solchen Auskunft mit ihrem Kind nach Hause gefahren. Miriam Gerlach und Ben setzen sich ins Auto und machen sich auf die Reise nach Hagen. Es ist inzwischen nach 23 Uhr. Die Frage was mit ihrem Kind passieren würde, wenn es schwer krank, aber nicht transportfähig wäre, wagt sie nicht zu stellen.
Hundemüde ins Bett gefallen
Unterwegs essen die beiden etwas, tanken das Auto voll, informieren die restliche Familie und kämpfen gegen die Müdigkeit an. Um 2 Uhr nachts erreichen sie die Kinderklinik des Allgemeinen Krankenhauses Hagen, wo sie schon erwartet werden. Aufnahme, PCR-Test, Eingangsuntersuchung. „Wir waren über alle Grenzen müde.“
Als sie schließlich auf Station 32 ankommen, werden sie von der Nachtschwester freundlich empfangen: „Das Bett für Ben stand bereit, ebenso ein Beistellbett für mich.“ Der Junge wird an die Messgeräte angeschlossen: „Und endlich, endlich können wir schlafen.“
Als sie am nächsten Morgen für einen Spaziergang die Kinderklinik verlässt, passiert die Mutter eine langen Schlange Wartender: „Kinder, die vor Schmerzen wimmern, Kinder mit roten Bäckchen und vor Fieber glänzenden Augen, Kinder in Rollstühlen, Eltern mit Gesichtern voller Sorge und Hilflosigkeit.“
Die Nacht hat Spuren hinterlassen
Im Stadtgarten ist alles wie immer. Die Sonne scheint schwach durch die Bäume, das Herbstlaub macht die Wege gelb und farbenfroh.
Nach 24 Stunden wird Ben aus dem AKH entlassen, es haben sich keine Komplikationen eingestellt. Miriam Gerlach könnte erleichtert sein, aber die Nacht hat ihre Spuren hinterlassen.
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Gemeinsam mit ihrem Sohn tritt sie die Heimreise nach Hannover an. Es wird höchste Zeit, denn die große Schwester hat Geburtstag.
Immerhin: Ben wurde in Hagen behandelt. Aber auch das AKH spürt die Auswirkungen des RS-Virus: „Auch wir behandeln derzeit etliche Kinder, die an einer RSV-Infektion leiden“, so Sprecherin Sarah Leising, „um Kapazitäten zu schaffen, verschieben wir momentan alle elektiven stationären Fälle und elektiven Operationen wie geplante Nachuntersuchungen, Therapieoptimierungen und Diagnostik, die ein paar Wochen warten kann. Notfälle werden nach dem Triage-System versorgt, schwer kranke Kinder erhalten eine Versorgung innerhalb weniger Minuten. Für alle anderen Kinder kann es zu teilweise sehr langen Wartezeiten kommen.