Boele. Nünnerich ist einer der ältesten Friseursalons in Hagen. Zum 100-Jährigen hat Mike Fiebig dort im Stuhl Platz genommen. Zu einem Gespräch.
Wer etwas längere Haare hat, kennt den Moment beim Friseur. Die Matte ist nass und der Länge nach runtergekämmt, damit präzise geschnitten werden kann. Handwerklich komplett nachvollziehbar. Man sieht allerdings aus wie ein gegelter Aal. Immerhin: So sehe ich, wie viel wirklich abkommt. Meine Frau hatte gewarnt. Ein Kurzhaarschnitt könnte zu atmosphärischen Störungen führen. Axel Nünnerich (53) macht es perfekt. Nicht nur meine Haare – also für mein bescheidenes Verständnis –, sondern vor allem dieses Gespräch, das wir führen, während der Meister sich meinen Kopf vorknöpft. Es ist ein Gespräch im Friseurstuhl über das 100-jährige Bestehen dieses besonderen Boeler Haarstudios, die Leidenschaft für das uralte Handwerk und vor allem: die Zukunft.
Nur zur Klärung: Die wenigsten, die über Axel Nünnerich reden, nennen ihn Axel. Auch nicht „Nünnerich“ oder Herr Nünnerich. In Boele sagen sie „Schere“. Der Name kommt vom Basketballfeld, wo schon so viele Spitznamen entstanden sind. „Schere“ spielt nämlich bei Boele-Kabel. So lange die Knochen das noch mitmachen und so lange der Spaß da ist. Mit dem Haarstudio verhält es sich etwas anders. Denn wenn die Knochen es mitmachen, um im Bild zu bleiben, dann wird Axel Nünnerich es in rund 13 Jahren abschließen. Als Letzter seiner Familie. Als Sohn von Reinhard und Enkel von Willi, die die Friseurtradition in Boele begründeten. Axel Nünnerichs Kinder, das ist schon klar, gehen andere Wege.
Raus aus der Komfort-Zone
„Okay für mich“, sagt der Meister. Meine Haare hat er zwischen Zeige- und Mittelfinger, fährt mit konzentriertem Blick daran herunter und schneidet ab. „So ist das eben. Ich stand auch mal vor der Entscheidung, ob ich etwas anderes mache, und dann habe ich nach der Schule doch entschieden, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.“ Beim „alten Herrn“ in die Ausbildung. Das hatte sich der junge Axel zu einfach vorgestellt. Sein Vater schickte ihn raus aus der Komfort-Zone. Zum Quambusch in einen Friseursalon. Was sich damals wie heute nicht geändert hat: Wenn man aus Boele kommt, ist der Quambusch eine fremde Welt. Und umgekehrt. „Das war gut für mich“, sagt Nünnerich. Schnipp, die nächsten Haarspitzen rieseln zu Boden. (Lesen Sie auch: Das Wehr am Hengsteysee – Ist die See-Umrundung bald nicht mehr möglich?)
Keine Dorfgespräche
Beim Friseur erfährst du alles, oder? Wenn ich wissen will, was in Boele vor sich geht, dann bin ich doch in diesem Stuhl vermutlich goldrichtig. Nein, bin ich nicht. Zumindest nicht hier bei Nünnerich. „Zum einen gibt es durch die Pandemie und die Terminvergabe keine Reihe wartender Kunden mehr im Salon, die Zeit mitbringen und sich spontan die Haare schneiden lassen wollen. Und dadurch eben auch weniger Gespräche untereinander“, sagt Axel Nünnerich. „Und zum anderen bin ich auch niemand, der sich an Dorfgesprächen beteiligen möchte, wenn es sie denn gibt.“ Im Übrigen sei das aktive Gespräch zwischen Friseur und Kunde etwas, das er erst in seiner Ausbildung habe lernen müssen. „Ich bin eigentlich nicht so“, sagt er und lächelt, „eine Quasselstrippe“.
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Großvater Willi hatte den Salon einst an der Hengsteyer Straße gegründet. „Der hat noch mit dem Messer geschnitten, frei Hand“, sagt Axel Nünnerich. Jede Frisur ein Unikat. Er selbst traue sich das auch zu, aber dann stünde er gefühlt stundenlang hinter den Kunden. Vidal Sassoon habe 1963 das Metier revolutioniert, indem er den Systemhaarschnitt erfand, der gemeinhin Bob genannt wird. Da darf ich übrigens auch nicht mit nach Hause kommen. Ansonsten stehen die Namen Willi, Reinhard und Axel Nünnerich natürlich auch für Jahrzehnte. Für Moden und Trends, Olympiarollen, Bubiköpfe, Dauerwellen, Pilzköpfe, Fassonschnitte, Igel, Miniplis, Pferdeschwänze, Tollen, Vokuhila oder Undercuts. Gibt es irgendein Handwerk, das dermaßen viele Trendbegriffe in den deutschen Sprachgebrauch gehievt hat wie das des Friseurs?
Rücklagen sind angeknabbert
Axel Nünnerichs eigenes Haupthaar ist – wie umschreiben wir die Kürze? – vorhanden, aber nicht sofort ins Auge springend. „Da war auch mal mehr drauf“, sagt er und lacht. Hinter ihm hängen die Meisterurkunden von Opa Willi und Vater Reinhard, der noch bis in seine 80er-Jahre zum Schneiden in den vom Sohn geführten Salon kam. „Das möchte ich für mich nicht“, sagt „Schere“, „irgendwann soll es einfach gut sein. Vielleicht muss es jetzt aber etwas länger gehen.“ Länger? „Ja“, sagt Nünnerich, „die Pandemie habe ich überlebt, weil ich an Rücklagen gegangen bin, die fürs Alter gedacht waren. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“
Es gibt 16-Stunden-Tage
Wird man denn eigentlich reich als Friseurmeister? Nünnerich lächelt die Frage zunächst weg. Nicht, weil ihn das Metier tatsächlich so reich gemacht hätte, dass er sich irgendwann die Haare in der Karibik kämmt. Nein. „Als Inhaber arbeite ich natürlich so, dass für mich etwas bleibt“, sagt der 52-jährige, wohlwissend, dass angestellte Friseure heutzutage Gehälter beziehen, für die es viel Idealismus braucht. „Ich weiß aber auch, dass Selbstständigkeit für mich bedeutet, über dem Laden zu leben, ihn um 8 Uhr auf und um 18 Uhr abzuschließen und danach noch das Büro zu machen. Es gibt auch 16-Stunden-Tage.“
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Nünnerich schafft das mit seinem eingespielten Team. Mit Ehefrau Nieves Fernandez und seiner Schwägerin Isabel Fernandez und mit der langjährigen und treuen Mitarbeiterin Sabrina Stirblies. Keine 100 Jahre mehr. Aber noch einige.
„So, ich feg’ dann mal“, sagt Axel Nünnerich. Danke, Meister.