Hohenlimburg. Ukrainerin Iryna hat eine bissige Kolumne über das Gesundheitssystem geschrieben – und für Frust bei einem Apotheker gesorgt. Ein Streitgespräch

In ihrer wöchentlichen Kolumne hat die Ukrainerin Iryna Hornieva jüngst ihren Frust über das hiesige Gesundheitssystem geäußert – und das brachte Wolfgang Humpert auf die Palme. Seit 55 Jahren arbeitet er als Apotheker, hatte lange eine Filiale in Hohenlimburg, ist in Kontakt mit Ärzten und schätzt das System trotz seiner Tücken. Wir haben beide an einen Tisch gebracht. Ein Streitgespräch zu den strittigsten Sätzen.

„Jeder, der länger als ein paar Monate in Deutschland lebt, weiß, dass man hier nicht krank werden sollte.“

Wolfgang Humpert: Ich fand diese Aussage eine Frechheit. Das war eine Diffamierung für das gesamte Gesundheitssystem bei uns. Es gibt natürlich Dinge, die verbesserungswürdig sind. Aber insgesamt funktioniert das System ganz gut.

Iryna Hornieva: Wenn ich spüre, mit meinem Körper stimmt etwas nicht, dann konnte ich in der Ukraine direkt beim Arzt anrufen und hingehen. Ich hatte hier biser noch keinen Notfall, aber ich höre viele Erlebnisse von ukrainischen Frauen. Für mich ist es verwunderlich, warum ich nicht sofort am Tag zum Arzt gehen kann, wenn ich das möchte? Hier habe ich schon häufig gehört, dass es teils sehr lange Wartezeiten gibt. Wenn ich nur zum Check-Up einen Termin will, wird beim Frauenarzt gesagt, einen Termin gibt es erst in einem halben Jahr.

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Humpert: Man muss immer differenzieren: Handelt es sich um einen dringenden Fall, der sofort behandelt werden muss. Oder ist es ein Fall, der Zeit hat? Wenn man akut krank ist, muss der Kassenarzt sie auch annehmen. Und in den Zeiten, in denen der Arzt keine Sprechstunde hat, kümmert sich der ärztliche Bereitschaftsdienst. Den kann ich jederzeit nachts anrufen, mein Problem schildern und dann kommt der auch. Das System aus der Ukraine hatten wir früher hier auch in den 1970er/80ern. Die Hausärzte hatten immer Bereitschaftsdienst, außer am Wochenende. Das hat man später geändert.

Iryna: Ich kenne es aus der Ukraine so, dass der Hausarzt feste Sprechzeiten hat. Wenn ich dann hingehe, kann es eine Warteschlange geben, aber ich kann kommen. Und wenn die Schlange zu lang ist und ich zu lange warten muss, kann ich alternativ zu einem Privatarzt gehen und für den Termin bezahlen. Er wird mich auf jeden Fall aufnehmen.

Humpert: Dazu ist zu sagen, dass unser Gesundheitssystem in Deutschland ein Solidarsystem ist. In der Ukraine wurde nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion das dortige System übernommen und das ist im Grunde auch solidarisch, weil das russische Prinzip damals war, der Staat kümmert sich um alles. Das hat man in der Ukraine versucht zu reformieren, mehr oder weniger erfolgreich. Und was ist passiert? Es ist ein Korruptionssystem entstanden. Wenn sie zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen, müssen sie Geld bezahlen.

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Iryna: Wir müssen differenzieren zwischen „offiziellen“ und „inoffiziellen“ Zahlungen, also Korruption. Beim Privatarzt müssen sie bezahlen.

Humpert: Aber in der Ukraine gibt es nur rund 15 Prozent Privatärzte, der Rest ist staatlich. Und im Krankenhaus muss man auch „eine Spende machen“ und in der Apotheke muss jeder bezahlen. Es gibt nichts umsonst – anders als hier. Hinzu kommt, dass weiß ich aus unserer Apotheken-Fachpresse, dass in der Ukraine eine Vielzahl der Medikamente gefälscht ist.

Iryna: Natürlich haben wir viele Probleme in unserem System und gut möglich, dass es Fälschungen bei Medikamenten gibt. Aber wir reden gerade über die Reaktionszeit. Wenn es Notfall genug ist, kriegt man am Tag selbst Hilfe.

WP: Also meinen Sie, in der Ukraine wird man schneller behandelt als in Deutschland?

Iryna: Ja, hundert Prozent.

 Die ukrainische Reporterin Iryna Hornieva flüchtete vor dem russischen Angriffskrieg mit ihrer Familie nach Hohenlimburg.
Die ukrainische Reporterin Iryna Hornieva flüchtete vor dem russischen Angriffskrieg mit ihrer Familie nach Hohenlimburg. © WP | Michael Kleinrensing

Humpert: Wir haben ein Solidarsystem und jeder Mensch, egal wie er finanziell dasteht, wird gleich behandelt. Auch wer das Geld nicht hat, wird nicht versorgt. Und wenn man in die Berichte der WHO schaut, dann sieht man, generell kann die medizinische Versorgung in der Ukraine nicht so gut sein, denn die Lebenserwartung im Land ist ungefähr 10 Jahre geringer als in west- und mitteleuropäischen Ländern.

Iryna: Aber wie soll man ohne Doktor im Fall der Fälle wissen, ob es ernst ist oder nicht? Vielleicht reicht ein Medikament aus der Apotheke? Im Übrigen: Nicht alle Apotheken in Deutschland sind 24 Stunden geöffnet, oder?

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Humpert: Warum auch? Ich hatte in Hohenlimburg über 35 Jahre die Apotheke und habe wochenlang die Notdienste gemacht. Ich war 12 Stunden vor Ort und es gab Nächte, da kam nicht ein Mensch. Wir haben Notdienst-Apotheken, die können Sie bei der Apothekerkammer nachlesen.

Iryna: Das wusste ich nicht, ist aber für Geflüchtete eine wichtige Information. Gerade die erste Zeit als wir kamen, war es nicht leicht. In der Nacht wurden Probleme schlimmer. In meiner Heimatstadt wusste ich, dass meine Apotheke um die Ecke jeden Tag 24 Stunden geöffnet hat. Und das wechselte auch nicht mit anderen Apotheken.

Humpert: Aber die Ukraine ist ein sehr großes Land. Und wenn sie dort auf dem Land leben, fahren sie sicher auch sehr lange bis zur nächsten Apotheke….

Iryna: Absolut. Wir reden nicht darüber, das das ukrainische System besser ist als das deutsche System. Aber wir sind an das ukrainische System gewöhnt und versuchen auf demselben Weg, den wir aus der Heimat kennen, hier zu Lösungen zu kommen. Dabei treffen wir aber auf eine andere Realität. Ganz grundsätzlich: Viele Ukrainer, die das nötige Geld haben und ernsthaft erkrankt sind, gehen in europäische Länder wie Deutschland, um sich behandeln zu lassen.

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Humpert: Ich finde es wichtig, dass hier alle Leute kostenlos versorgt werden. Es ist kein gutes System, wenn es danach geht, wer am meisten bezahlen kann.

„Die Kasse deckt nur die Grundversorgung ab“

Humpert: Davon kann keine Rede sein. Und wenn jemand von „Grundversorgung“ redet, dann hat das den negativen Beigeschmack, es handele sich um ganz niedriges Niveau. Aber das ist nicht der Fall – die medizinische Versorgung in Deutschland ist auf hohem Niveau. Es ist keine Grundversorgung, sondern eine umfassende Versorgung, die nach wirtschaftlichen Aspekten geregelt ist. Alles, was erforderlich und nötig ist, wird von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt.

„(...) daher empfehle ich den Ukrainern, auch bei starken Schmerzen beim Arzt nachzufragen, ob die Krankenkasse die Kosten übernimmt.“

Humpert: Diese Nachfrage beim Arzt ist nicht nötig. Die Kosten werden in jedem Fall von der Kasse übernommen – das ist unstrittig.

Iryna: Eine ukrainische Freundin von mir hat erlebt, dass sie Einlagen für Schuhe benötigte. Sie ging zum Orthopäden und berichtete, sie musste 25 Euro bezahlen, bekam aber später eine zweite Rechnung nach Hause. Da hieß es, die Kasse übernimmt die Leistung nicht – und sie müsse über 100 Euro zusätzlich zahlen. Hätte sie vorher gewusst, dass sie soviel Geld zahlen muss, dann hätte sie die Einlage nicht gekauft.

Humpert: Bei Einlagen gilt wie bei Arzneimitteln: Zuzahlungen muss jeder Versicherte bezahlen, außer er oder sie ist von dieser Zuzahlung befreit. Zum Beispiel als Geflüchteter bekommt man so eine Befreiung, weil man ja kaum bis kein Einkommen hat. Man muss nicht zuzahlen.

Iryna: Genau das ist es, was wir Geflüchteten erklären müssen. Aufgrund unserer Erfahrungen bisher war die Botschaft meiner Kolumne: Seid aufmerksam und fragt vorher.

Humpert: Aber hier handelt es sich um Ausnahmefälle.

Iryna: Für uns ist das viel Geld, im Beispiel der Einlagen mehr als 100 Euro.

Humpert: Sie müssen es nicht zahlen, wenn es vorher nicht gesagt wurde. Das gilt etwa auch für die sogenannten „individuellen Gesundheitsleistungen“ (IGeL). Deswegen: Grundversorgung ist ein abwertender Begriff. Wir haben eine umfassende Versorgung, die auch vollkommen ausreichend ist nach meiner Erfahrung.

„Ein Krankenwagen kommt schnell, aber Deutsche selbst raten, ihn nur in Notfällen zu rufen. 39,5 Grad Fieber bei einem Kind kann kein triftiger Grund sein“

Humpert: Natürlich braucht man einen Krankenwagen nur im Notfall. Und nein, 39,5 Grad Fieber ist kein triftiger Grund, um einen Krankenwagen zu rufen. Warum sollte ich ein Kind in einem Krankenwagen ins Krankenhaus transportieren? Wenn in Deutschland ein Kind hohes Fieber bekommt, nimmt das Kind und fährt es mit dem Auto ins Krankenhaus.

Iryna: Wenn man ein Auto hat – aber nicht jeder hat ein Auto.

Humpert: Sie können auch ein Taxi zahlen und die Kosten würde die Krankenkasse zahlen. Sie brauchen aber für ein Kind mit hohem Fieber auch keinen Krankenwagen mit vollständiger Ausrüstung. Mit dem Taxi kann man in die Notaufnahme für Kinder fahren.

Iryna: In Deutschland haben wir Ukrainer kein Auto. Ich wusste nicht, dass ein Taxi von der Kasse bezahlt wird, wenn ein Notfall besteht. Stellen wir uns vor, mitten in der Nacht habe ich einen Notfall. Wenn ich den Notruf anrufe, zu welchem Krankenhaus bringen sie mich?