Hohenlimburg/Hagen. Neues Gesicht in der Redaktion: Die Journalistin Iryna Hornieva flüchtete aus der Ukraine und schreibt nun über das Ankommen in Hagen
Ein neues Gesicht wird künftig die Arbeit dieser Zeitung unterstützen: Iryna Hornieva ist 39 Jahre alt und aus der Ukraine. Heute leben sie und ihre zwei Kinder in einer Wohngemeinschaft zusammen mit weiteren Geflüchteten aus der Ukraine. Wie sie die letzten Wochen erlebt hat und wie sie als ukrainische Journalistin den Geflüchteten vor Ort helfen will.
Sie haben in der Ukraine als Journalistin gearbeitet und sind Anfang März nach Hagen geflüchtet. Wie kam es dazu?
Irina Hornieva: Ich lebte in Krementschuk, das liegt in der Zentralukraine. Dort war zu jener Zeit kein Kriegsgebiet. Dennoch hörten wir mehrfach am Tag den Fliegeralarm. Ich wohnte im 5. Stock eines Wohnhauses und wir, meine Kinder und ich, fühlten uns nicht mehr sicher. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wurde Krementschuk angegriffen. Mehrere Raketen zerstörten einen wichtigen Teil der Stadt fast vollständig, sodass die Bewohner derzeit ohne Warmwasser und Heizung sind, Anm. d. R.) Während des Fliegeralarms liefen wir in eine nahe Schule – ob Mitten in der Nacht oder am Tage. Meistens schliefen wir in unserer Kleidung, meine Kinder haben nicht geduscht, weil sie Angst hatten, dass währenddessen der nächste Fliegeralarm ertönt. Du fühlst dich immer so, als wärst du in Gefahr. Gott sei Dank passierte uns nichts, aber als ich einmal durch mein Wohnungsfenster einen Militärflieger am Himmel sah, war ich geschockt. Ich beschloss zu flüchten, als ich Bilder aus dem zerstörten Zentrum von Charkiw sah. Ich habe dort früher gelebt und sah den beschädigten Kindergarten, die getroffene Schule und das brennende Verwaltungsgebäude und realisierte, dass sie nicht nur militärische Ziele angreifen, sondern auch die Zivilbevölkerung. Ich beschloss, zu flüchten und meine Kinder zu retten.
Haben Sie noch Familie dort?
Ja, in Krementschuk. Meine ältere Schwester und ihr Mann blieben dort, weil Männer während des Krieges das Land nicht verlassen durften. Meine Schwester kümmert sich um unsere Eltern.
Haben Sie Kontakt?
Ja, ich gab ihnen den Schlüssel zu meiner Wohnung in Krementschuk und aktuell leben dort acht Flüchtlinge, zwei Familien. Die Familien lebten vorher in Charkiw, aber ihre Wohnungen dort wurden zerstört. Charkiw ist etwa 400 Kilometer von Krementschuk entfernt.
Wie lange dauerte ihre Reise von Krementschuk nach Hagen?
Wir fuhren zunächst mit dem Zug bis nach Lwiw und das war ein Alptraum. Die Fahrt dauerte 24 Stunden und die Waggons waren überfüllt. Wo normalerweise 6 Personen in einem Abteil sitzen, drängten sich nun 20 Personen. Meine Kinder lagen auf dem Boden, manche Reisende lagen in der Gepäckablage über den Sitzen. Wer zur Toilette musste, der musste über die Menschen steigen. Es war sehr heiß und das Kondenswasser tropfte von den Fenstern. In der Nacht stoppten wir sehr oft mitten im Nirgendwo. Sie sagten uns, wir sollten die Lichter ausmachen. Ich denke, weil es gefährlich war und wir an Kiew vorbeifuhren. Wir hörten Geräusche in der Ferne, die wir nicht zuordnen konnten und von denen ich glaube, dass es Schüsse waren. In Lwiw angekommen, blieben wir dort für eine Nacht. Und da hörte ich von einem Bus, der direkt nach Deutschland fährt. Wir fuhren 1 ½ Tage mit dem Bus und kamen direkt in Hagen an.
Sie kamen in einer Villa in Hohenlimburg unter, die von der Firma Waelzholz für Geflüchtete hergerichtet worden war. Das ist bald zwei Monate her. Was denken Sie über die fremde Stadt, in der Sie nun leben?
Die Villa war für uns nach dem Ankommen wie ein Paradies. Wir hatten das Haus, wir hatten genug zu essen, die Kinder bekamen Süßigkeiten und es kamen Menschen, die uns helfen wollten. Unterstützung gibt es bis heute, im alltäglichen Leben ist Routine eingekehrt.
Sie leben in der Villa mit anderen geflüchteten Frauen und deren Kindern. Wie sieht der Alltag aus?
Wir stehen morgens auf und bringen die Kinder zur Schule. Danach machen wir das Haus sauber, kochen das Mittagessen. Sonst haben wir nichts zu tun. Die meiste Zeit googeln wir, was man hier so machen kann, wie man sich nützlich machen kann, wie man Lösungen findet, um hier anzukommen.
Was bedeutet „Ankommen“ für Sie?
Es gab eine Zeit, da fühlte ich mich wie ein Affe im Käfig. Ich lebe gut und bin sehr dankbar, dass die Menschen hier uns Wohnungen und Essen geben. Aber ich bin nicht fähig, mein Essen selbst zu verdienen. Also recherchieren wir die meiste Zeit des Tages um zu erfahren, wie wir unabhängiger werden und uns nützlich machen können.
Wie würden Sie – oder Geflüchtete aus ihrem Umfeld - sich hier gerne einbringen? Was möchten Sie tun?
Wir würden uns zum Beispiel gerne als Freiwillige in Hohenlimburg und Hagen einbringen. Wir haben bei der Caritas gefragt, die wollte uns helfen, konnte es bisher aber wegen der Pandemiesituation noch nicht. Ich persönlich würde gerne hier einen Baum pflanzen, wenn es dafür öffentlich einen Platz gäbe. Hohenlimburg ist für eine Weile unser Zuhause geworden, und das Zuhause muss gepflegt und verbessert werden.
Was denken Sie, ist das größte Problem für geflüchtete Ukrainer, um in Deutschland anzukommen?
Es gibt eine riesige Informationslücke. Wir Geflüchtete können nicht verstehen, wie wir etwas bekommen. Wir wollen nicht die Regeln brechen und wir sind sehr dankbar für das, was hier für uns getan wird. Aber wir wissen nicht, wie wir es richtig annehmen können. Noch erklären uns die Leute höflich, was zu tun ist, aber ich denke, das wird nicht ewig so weitergehen.
Können Sie Beispiele aus dem Alltag nennen, wo Ihnen das auffällt?
Zum Beispiel, wenn wir mit dem Zug fahren. Geflüchtete dürfen kostenlos fahren. Als wir größere, weiter entfernte Städte per ICE besuchen wollten, da fanden wir heraus, dass wir dafür ein Ticket und eine Bestätigung benötigen, um regulär fahren zu dürfen. Und nirgendwo im Bahnhof fanden wir dazu vorher Erklärungen oder Anweisungen.
Es muss also besser erklärt werden…
Ja. Und selbst mit E-Ticket: Ich kam plötzlich in die erste Klasse, ohne es zu wissen. Ich habe den Unterschied nicht erkannt, es war das erste Mal für mich in diesem Zug. Verglichen mit ukrainischen Zügen sind die deutschen Züge alle sehr sauber, modern und leise. Anfangs fragte ich die Kontrolleure, aber sie können es nicht tausenden Flüchtlingen einzeln erklären.
Es kann noch Monate dauern, bis der Krieg vorbei ist. Was wollen Sie in Deutschland erreichen?
Ich möchte kein Parasit sein. Ich möchte nicht nur nehmen, sondern ich möchte nützlich sein – und ich bin sicher, vielen anderen Flüchtlingen geht es genauso. Es ist langweilig und seltsam, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen und nichts zu tun, außer zu essen und zu putzen.
Hier geht es also auch um Stolz und Selbstwertgefühl…
… und Scham. Für unsere Kinder ist es ganz spaßig, wenn sie im Schnellrestaurant nach kostenlosen Burgern fragen. Aber als Erwachsene möchte ich für diese Hamburger bezahlen und das Geld dafür verdienen können. Aber vorher brauche ich jemanden, der mir erklärt, wie ich das in diesem Land schaffe.
Es ist wichtig für jedermann, ein eigenständiges Leben führen zu können…
Genau. Wir haben in der Waelzholz-Villa zwar Flüchtlingshelfer wie den Hagener Vadim Plotnikov, der uns unterstützt. Aber er hat sein eigenes Leben, seinen Beruf und seine Familie. Er kann nicht den ganzen Tag für uns da sein, und das wollen wir auch nicht. Wir müssen lernen, hier alleine zu leben, aber das ist schwierig, weil wir die Sprache nicht verstehen. Deshalb möchte ich Deutsch lernen. Und ich möchte recherchieren, auch um andere Geflüchtete darüber zu informieren, wie sie sich in diesem Land nützlich machen können. Damit sie hier ankommen können. Wir Ukrainer können hart und gut arbeiten – aber jemand muss uns erklären, nach welchen Spielregeln das in diesem Land funktioniert.
Hier finden Sie dieses Interview auf ukrainisch.
Eigene Kolumne
Über das Ankommen in Deutschland, ihre Erlebnisse und die Hürden, vor die Geflüchtete aus der Ukraine stoßen, wird Iryna Hornieva künftig in dieser Zeitung berichten. Ihre Texte erscheinen auf deutsch und ukrainisch unter wp.de/ankommen.