Hagen. Der erste Eindruck, den Menschen von Hagen haben, ist deprimierend. Ein Besuch in der Straße „Am Hauptbahnhof“. Von Müll, Asphalt und Anonymität.
Würde ich als Frau hier abends alleine lang laufen? Vermutlich nein. Habe ich es schon mal gemacht? Nein. Beurteilen, wie es ist, kann ich also nicht. Aber es gibt einfach ein grundsätzliches Gefühl von Unwohlsein, wenn man an die Abend- oder Nachtstunden im Bahnhofsumfeld denkt. Das ist in vielen anderen Großstädten aber auch so. Bahnhöfe versprühen eben einfach nicht das, was man als Freundlichkeit oder Aushängeschild einer Stadt bezeichnen würde. Ich versuche trotzdem, unvoreingenommen hier durch die Straße zu gehen und zu beobachten, was wir in dieser Serie ja machen wollen.
Wenn Reisende, die vielleicht noch nie einen Fuß auf Hagener Boden gesetzt haben, hier ankommen, ist ein grauer, trister Platz also das erste, was sie sehen. Ernüchternd. Deprimierend ist das irgendwie auch. Dabei ist Hagen die grünste Großstadt in NRW. Berliner Platz – eine graue Bausünde der Vergangenheit, die man heute wohl nie wieder so planen würde. Damals war das aber einfach so.
Ein paar kleine Kinder springen über die Wasserspiele, die im Asphalt eingelassen sind. Ansonsten sind hier viele Menschen mit rollenden Koffern und Reisetaschen unterwegs, die auf ihr Handy glotzen oder telefonieren. Alltagshektik. Vielleicht wollen sie auch einfach möglichst schnell weg. Das Graf-von-Galen-Carré auf der anderen Seite des Platzes versprüht auch nicht gerade den Charme einer modernen Großstadt und könnte dringend mal ein Facelift vertragen. Von der Polizeiwache, die wiederum als eine der hässlichsten in NRW gilt, brauchen wir gar nicht erst anfangen, darum geht es ja heute auch nicht. Fängt ja gut an.
Gute Infrastruktur, viel Müll
Weiter geht es. Vorbei am Hinweisschild des Ruhrverbandes zum Radwegenetz hier in der Stadt, auf das - nur eine Vermutung - vermutlich nur selten jemand guckt. Die Taxifahrer qualmen mit unter das Kinn gezogenen Einwegmasken ihre Zigaretten und warten auf Kunden. Ein paar Autofahrer werfen ungeduldige Mitfahrer raus, die noch ihren Zug erwischen müssen. Ist halt ein Hauptbahnhof. Das ist übrigens auch der Name der Straße, um die es hier bei der Beobachtung eigentlich geht. ,,Am Hauptbahnhof“. Eigentlich gibt es hier neben einigen Leerständen eine ganz gut aufgestellte Infrastruktur.
Kiosk, Reisebüro, zwei Restaurants, Friseur, Dönerbude, Bistro, ein Obst- und Gemüsehandel, ein Hotel, ein Wettbüro, und auf der Straße gegenüber vom ZOB schließen sich diverse Läden an - vor allem türkische. Das hat auch den Hintergrund, dass sich damals, nachdem am 30. Oktober 1961 mit der Türkei ein Anwerbeabkommen geschlossen wurde, viele türkische Gastarbeiter-Familien hier im Bahnhofsumfeld angesiedelt haben, die oder deren nachfolgende Generationen zum Teil bis heute hier leben.
Aber nicht nur – Hagen ist nun mal die Stadt mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Günstige Mieten locken vor allem die finanziell eher schwach Aufgestellten zum Wohnen in diesem Teil der Stadt, die Wohnungen scheinen zum großen Teil einen grausigen Standard zu haben, das lassen zumindest die Müllberge und die heruntergekommenen Hauseingänge vermuten.
Ernüchterndes Fazit
Eine Häuserreihe, das Ensemble unter der Hochbrücke, fällt (neben dem erst vor zwei Jahren eröffneten Hotel in der Straße) hier etwas aus der Reihe, weil es gerade frisch saniert wurde. Der Investor sieht hier im Stadtteil Entwicklungspotenzial. Was es ja auch gibt: Der Bahnhof soll saniert werden, es gibt Ideen für eine andere Nutzung der Hochbrücke,möglicherweise könnte irgendwann in der Zukunft das ganze Quartier einen Wandel erfahren, ähnlich wie zuletzt beispielsweise Wehringhausen - die Hagener Politik hatte eine Forschungsgruppe der Bergischen Universität Wuppertal mit dem Blick auf das Bahnhofsviertel beauftragt und gleich eine ganze Reihe von Maßnahmen an die Hand bekommen. Umsetzung: offen. Aber darum geht es ja heute auch nicht.
Die Menschen hier untereinander kennen sich, sprechen miteinander. Scherzen. Als Außenstehender ist man hier eigentlich genau das: außen vor. Man wird nicht blöd angemacht. Im Vorbeigehen grüßt man sich nicht, was man fairerweise auch in der Innenstadt oder so nicht tut, wenn man die Leute nicht kennt. Man geht einfach aneinander vorbei. Und irgendwie lebt man auch aneinander vorbei.
Weiß ich irgendwas über die Menschen, die hier leben? Wie sie aufgewachsen sind? Wie ihr Leben so aussieht? Ob sie gerne ein anderes Leben hätten oder gerne hier leben? Wie sie ihr Geld verdienen, oder ob sie überhaupt Geld verdienen? Nein. Die Schilderungen sind also wirklich völlig subjektiv. Und je nachdem, zu welcher Tageszeit man herkommt, sind die Beobachtungen wohl anders.
Anonym unter vielen Passanten
Heute fühle ich mich hier nicht unwohl. Ich bin eine unter zahlreichen Passanten, die hier einfach ihren Weg gehen, in der Menge nicht weiter auffallen. Es geht zurück zur Redaktion und ich überlege, wie und was ich über das Bahnhofsviertel schreiben soll. Ohne zu hart zu sein oder den Menschen hier unrecht zu tun, aber auch ohne die Situation zu beschönigen. Wenn wir schon bei schön sind. Schön ist es hier wahrlich nicht, nein. Schade, dass der erste Eindruck, den „Neue“ hier vielleicht haben, so ernüchternd ausfallen muss. Würde ich nach dieser Erfahrung abends hier allein entlangspazieren? Vermutlich nein. Ernüchternd.