Hagen. Eine Absurdität reiht sich in Hagen jetzt an die nächste. Im Umkreis wird geöffnet, hier bleibt alles dicht. Die Händler gehen in die Offensive.

Das Unverständnis ist an einer Grenze angekommen, an der es größer nicht sein könnte. Während in angrenzenden Städten Öffnungen für Handel und Gastronomie nur noch eine Frage von Tagen oder längst erfolgt sind, wird der Hagener Handel sich auf weitere Schließungswochen einstellen können. Der aktuelle Inzidenzwert von 172,8 eröffnet keine Perspektive. „Was läuft falsch in dieser Stadt?“ fragten einige der bekanntesten Händler Hagens gestern laut, als sie dem Oberbürgermeister einen offenen Brief im Rathaus vorbeibrachten. Gerade der Hagener Fall scheint an Kuriositäten kaum noch überbietbar.

„Gehen Sie doch mal spazieren. Die halbe Stadt ist geöffnet“

„Gehen Sie doch mal spazieren. Die halbe Stadt hat geöffnet“, sagt Søren Kloch, dessen gleichnamiger Damen- und Herrenausstatter „Søren“ weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Er hat recht. Die Innenstadt ist ein bizarrer Flickenteppich. Optiker offen, Schuhgeschäfte zu. Buchhandel offen, Parfümerien zu. Kinder- und Babykleidung offen, Juweliere zu. Blumenläden offen, Restaurants zu. „Und jetzt stehen wir kurz vor Ladenöffnungen in Dortmund und Bochum, anderswo wurde schon geöffnet“, sagt Kloch. „Das zieht über Wochen Kaufkraft ab und hart erarbeitete Kunden gehen auch verloren.“

Lieferservice gar nicht erst angeboten, weil es ein Minusgeschäft ist

Wie hoch die Belastung längst ist, zeigt der Fall von Cengiz Akar, der als Franchisenehmer das Restaurant „Hans im Glück“ am Theater-Karree betreibt. Sieben Monate Lockdown am Stück und drei im vergangenen Frühjahr haben nicht nur beim Umsatz brutale Spuren hinterlassen. Kredite müssen bedient werden, dazu hat sich Akar mit einem höheren Kfw-Kredit helfen müssen, um in der Pandemie liquide zu bleiben. „Schlimmer aber noch ist, was alles dranhängt an meinem Geschäft. Ich habe 40 Mitarbeiter, die darunter leiden und wo ich mir auch Sorgen machen muss, dass sie abwandern, wenn woanders die Gastronomie wieder öffnet. Vor allem aber sorge ich mich um die Mitarbeiter als Menschen.“ Lieferservice hat Akar gar nicht erst begonnen, weil das, wie Vergleiche zeigen, ein deutliches Minusgeschäft ist. Mal davon abgesehen, dass ihm die Stadt trotz großzügiger Freiflächen vor dem Betrieb nicht gestattet hätte, dort mit Liefer-Autos zu halten.

Ursachenforschung betreiben: Warum kommt Hagen nicht von Inzidenzwert runter?

„Mit Blick auf die positive Entwicklung in anderen Städten stellt sich die Frage, was in Hagen falsch läuft“, erklärt Winfried Bahn, Sprecher des Hagener Unternehmerrates, stellvertretend für die Händler. „Dass die Teststrategie in Hagen so engmaschig ist, ist ja die eine Sache. Und trotzdem müssen wir doch lieber mal gucken, warum die Inzidenzwerte so hoch bleiben. Doch nicht nur, weil einfach mehr getestet wird. Entweder wir machen das so wie benachbarte Kommunen auch oder wir machen alles ungleich. Aber dann können wir die Werte auch in die Tonne kloppen.“ Weil die Gesundheitsämter in NRW den Ermessensspielraum der Corona-Teststrategie ganz unterschiedlich interpretieren, wird ein Vergleich der Inzidenzwerte der Städte und Kreise zunehmend zur Farce. Recherchen unserer Zeitung hatten bereits im Februar ergeben, wodurch das Zerrbild entsteht.

„Hagen verliert an Qualität, wenn wir nicht vergleichbare Situation erreichen“

Anfang Februar hatte die Stadt Hamm eine NRW-weite Abfrage bei den Krisenstäben der einzelnen Städte zu deren Coronatest-Praxis durchgeführt. Dabei wurde deutlich, dass unter den 51 Befragten in 29 Fällen selbst bei Mitbewohnern eines Corona-Infizierten schon gar keine Testungen mehr durchgeführt werden, sondern diese ohne weiteren Befund für 14 Tage in Quarantäne geschickt werden. In Dortmund, wo der Inzidenzwert gestern bei 84,8 lag werden Mitbewohner nur auf Wunsch getestet. Im EN-Kreis gar nicht – folglich auch nicht in Wetter, Herdecke oder Breckerfeld. In einer Einkaufsstadt wie Essen ebenfalls nicht. In Hagen hingegen schon. „Hagen verliert an Qualität, wenn wir nicht eine vergleichbare Situation wie in Nachbarkommunen erreichen“, formulieren die Unternehmer.

Filteranlage für 10.000 Euro eingebaut und trotzdem darf der Händler nicht öffnen

Die Absurditäten türmen sich vor den Händlern auf. Søren Kloch hatte im September 10.000 Euro in eine Lüftungsanlage investiert, die eine über 99-prozentige Virenfreiheit im Laden herstellt. Interessieren tut das niemanden. Öffnen darf er nicht. In der Goldschmiede Adam haben sie zum Start des Lockdowns zunächst ein Umsatzplus erlebt. „Die Leute haben in Schmuck investiert, statt zu reisen“, sagt Burkhard Adam. Das war aber nur oberflächlicher Glanz. Das Versandgeschäft ist schwierig, verkauft wurde Bestandsware und die zehn Mitarbeiter trifft die Pandemie eisenhart. Die TV-Geräte bei Garthe kauft keiner im „Click and Collect“. „Und warum sind Waschmaschinen nicht auch systemrelevant?“ fragt Björn Garthe. Dabei verkauft ein Vollsortimenter Elektrogeräte neben Bananen.