Hagen. Sind die Inzidenzwerte in NRW eigentlich noch vergleichbar? Ein Blick auf die Teststrategien der Städte lässt hier erhebliche Zweifel aufkommen.
Weil die Gesundheitsämter in Nordrhein-Westfalen den Ermessensspielraum der Corona-Teststrategie ganz unterschiedlich interpretieren, wird ein Vergleich der Inzidenzwerte der Städte und Kreise zunehmend zur Farce. Eine jüngste Abfrage unter den einzelnen Behörden, deren Ergebnis der Stadtredaktion Hagen vorliegt, zeigt eindrucksvoll: Wer zurückhaltend testet, hat deutlich weniger Neuinfektionen. Somit entsteht zunehmend ein Zerrbild, das mit der Pandemie-Realität im Lande wenig zu tun hat.
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„Die aktuelle Erhebung zu den deutlich abweichenden Teststrategien in den Städten und Kreisen wirft mehr denn je die Frage nach der Vergleichbarkeit der Inzidenzwerte in NRW auf. Und damit zugleich nach der Sinnhaftigkeit von landes- oder gar bundesweiten geltenden Regelungen und Einschränkungen, die sich allein nach diesen Werten ausrichten“, meint daher Oberbürgermeister Erik O. Schulz.
Da die Hagener Gesundheitsamtsleiterin Dr. Anjali Scholten weiterhin durch konsequentes Testen versucht, die Infektionsketten nachzuverfolgen, dürfte Hagen auf absehbare Zeit die rote Laterne als Hotspot bei den NRW-Inzidenzwerten kaum abgeben. Parallel erhöht sich jedoch der Missmut der vom Lockdown betroffenen Unternehmen und Ladenlokale, die inzwischen befürchten, dass in Kommunen und Kreisen mit deutlich niedrigerer Inzidenz viel früher Öffnungsszenarien greifen als in den höher belasteten Städten.
OB fordert ungeschminkten Blick ein
„Wir müssen die Infektionszahlen dringend weiter senken. Das steht außer jeder Frage und dieses Bemühen will ich keiner Stadt in NRW in Abrede stellen“, hat OB Schulz volles Verständnis für die Sorgen aus der Wirtschaft. „Aber dieses Absenken darf nicht allein auf einer rein rechnerischen Ebene passieren. Die Formel ,Ich teste nicht, also ist die Infektion nicht mehr da‘ geht nie und nimmer auf. Was wir brauchen, ist ein ungeschminkter Blick auf das Infektionsgeschehen - nicht nur in unserer Stadt“, fordert er statt großzügiger Ermessensspielräume klare Handlungsmuster ein. „Ich bin Frau Dr. Scholten und ihrem engagierten Team im Gesundheitsamt überaus dankbar, dass in Hagen seit Beginn der Pandemie so umfangreich getestet wird, wie es nur eben geht. Und damit hören wir auch nicht auf! Und ja, die Ergebnisse, die wir durch unsere Teststrategie erhalten, sind oft nicht erfreulich, geschweige denn in ihren Konsequenzen bequem. Aber sie sind ehrlich.“
Ermessensspielräume bei jedem Einzelfall
Grundsätzlich gibt das Robert-Koch-Institut die Empfehlung aus, dass im direkten Umfeld von Corona-Infizierten, die somit einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, die Testung von asymptomatischen Kontaktpersonen eine Einzelfallentscheidung sei, die nach Maßgabe des zuständigen Gesundheitsamtes getroffen werde.
Obligatorisch ist bislang lediglich eine 14-tägige Quarantäne, das tägliche Fiebermessen sowie das Führen eines Symptom-Tagebuchs. Mit der weiteren Ausbreitung der Mutationsvarianten empfiehlt das RKI zudem seit dieser Woche: „Am vierzehnten Tag sollte nach Maßgaben des zuständigen Gesundheitsamts vor Entlassung aus der Quarantäne ein Antigenschnelltest oder PCR-Nachweis durchgeführt werden.“
Anfang Februar hat die Stadt Hamm eine NRW-weite Abfrage bei den Krisenstäben der einzelnen Gebietskörperschaften zu deren Coronatest-Praxis durchgeführt. Dabei wurde deutlich, dass unter den 51 Befragten in 29 Fällen selbst bei Mitbewohnern eines Corona-Infizierten schon gar keine Testungen mehr durchgeführt werden, sondern diese ohne weiteren Befund für 14 Tage in Quarantäne geschickt werden. Das bedeutet, dass neben dem Infizierten (Indexfall) gar keine weiteren Coronavirus-Träger mehr identifiziert und somit keine weiteren Fälle in die Statistik wandern.
Lediglich 12 Städte und Kreise halten es wie die Hagen und testen zumindest alle weiteren Haushaltsangehörigen sowie bei weiteren Positiv-Testungen auch deren direktes Kontaktpersonen (Kollegen, Mitschüler, etc.). Zehn Gemeinden überlassen es sogar dem Wunsch des Umfeldes, ob auch diese sich einem Corona-Test unterziehen mögen. Somit kommt ein Bild zustande, das Städte wie Münster, Mönchengladbach und Coesfeld als Wenig-Tester im aktuellen Städteranking hintere Plätze belegen lässt, während Hagen, Solingen und Hamm als Viel-Tester als Corona-Hotspots im Land in Verruf geraten. Eine Stigmatisierung, die eben nicht etwa durch ungewöhnliche Pandemie-Ausbrüche, sondern durch unterschiedliche Test-Herangehensweisen zu begründen ist.
Wenig-Tester mit niedrigen Werten
„Wir verfolgen in Hagen die Strategie, möglichst viele Infektionen aufzudecken – vor allem die asymptomatischen“, beschreibt Stadtsprecher Michael Kaub die Herangehensweise des Scholten-Teams. „Das ist letztlich nur möglich, wenn beispielsweise auch die ganze Familie eines Infizierten getestet wird. Nur so entstehen überhaupt Infektionsketten und eine konsequente Nachverfolgung“, betont Kaub, dass daher auch Reihentestungen in den Schulen bei Infektionsfällen die logische Konsequenz seien. „Indem wir in Hagen die direkten Kontaktpersonen testen, decken wir weitere Indexfälle auf und gehen somit einen entscheidenden Schritt weiter.“ Mit den entsprechenden Konsequenzen in der Inzidenzwert-Statistik. Angesichts der Ausbreitung der weitaus ansteckenderen Virus-Mutationen sei es erst Recht geboten, diese Strategie weiterzuverfolgen, so der Stadtsprecher.
NRW-Ministerium ist gefordert
Die Zahlen aus der aktuellen Erhebung der Stadt Hamm hat die Bezirksregierung jetzt an das NRW-Gesundheitsministerium weitergeleitet: „Jetzt gilt es abzuwarten, ob dort flankierende Vorgaben und Hinweise entwickelt werden“, beschreibt Christoph Söbbeler, Sprecher der Kommunalaufsicht, den Entscheidungsweg.