Wehringhausen. Der Verein Wildwasser Hagen setzt sich für Mädchen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, ein. 2020 haben sich die Beratungsanfragen verdoppelt.

Es geht den beiden darum, das Umfeld für „stille Hilferufe“ zu sensibilisieren: Petra Rottmann und Felicitas Bettendorf setzen sich gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen ein. Die engagierten Frauen sind hauptamtlich in der Wildwasser-Fachstelle in Wehringhausen beschäftigt. Petra Rottmann arbeitet für den Verein beziehungsweise die Fachstelle als Sozialpädagogin seit über 20 Jahren, Felicitas Bettendorf ist als Sozialarbeiterin seit gut einem Jahr dabei.

„Wir wollen stärken und niemandem Angst einflößen“, unterstreichen die beiden, für die Prävention und Aufklärung der beste Schutz vor sexuellen Übergriffe sind. In einem normalen Jahr ohne Corona-Einschränkungen verzeichnet die Fachstelle 700 Kontakte. „Wir beraten und informieren Schüler- und Lehrergruppen, Erzieherinnen und sogar Kindergartenkinder“, sagt Felicitas Bettendorf und ergänzt: „Kindgerechte Aufklärung ist ganz wichtig, und gerade im jungen Alter haben Kinder richtig Spaß an Aufklärung.“

Sexuelle Gewalt ist immer noch Tabuthema

Wildwasser seit 1995 in Wehringhausen

In den 1980er Jahren, in der Zeit der Frauenbewegung, entstand der Verein Wildwasser; damals gab es mehr als 40 Wildwasser-Vereine.

Die Wildwasser-Hagen-Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt besteht seit 1995 in Wehringhausen und orientiert sich in ihren Angeboten schwerpunktmäßig im Bereich der Prävention von sexualisierter Gewalt. Die Arbeitsbereiche der Einrichtung lassen sich in Beratung, Prävention, Fortbildung für Multiplikatoren und in den offenen Bereich unterteilen.

Die Fachstelle befindet sich seit September 2017 in Trägerschaft des Vereins Wildwasser Hagen. Der Verein hat 23 Mitglieder, von denen sich sechs Frauen ehrenamtlich engagieren. Weitere ehrenamtliche Helferinnen sind herzlich willkommen.

Die Fachstelle ist mit zwei Halbtagsstellen ausgestattet, die Personalkosten trägt das Land NRW, außerdem wird Wildwasser finanziell unterstützt durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), durch städtische Zuschüsse und durch Spenden.

Das Wildwasser-Team ist telefonisch unter 02331 – 37 10 13 zu erreichen. Auf der Homepage www.wildwasser-hagen.de können sich Hilfesuchende für eine Online-Beratung (auch anonym) anmelden.

Einzelpersonen oder kleinere Gruppen werden in Normalzeiten in der Beratungsstelle in der Eugen-Richter-Straße empfangen, Einrichtungen werden von den Expertinnen aufgesucht.

Sexuelle Gewalt sei noch immer ein Tabuthema, obgleich das Thema in den letzten Jahren durch Kampagnen wie „#MeToo“ in der Öffentlichkeit mehr Beachtung gefunden hätte. Dadurch, dass prominente Frauen über ihr eigenes Schicksal berichtet hätten, sei das Thema in den Alltag gespült worden. Und große Kindesmissbrauchsskandale wie in Lüdge oder Bergisch Gladbach hätten Teile der Gesellschaft wachgerüttelt.

Zahl der Anzeigen steigt

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„Seit 2016 werden gerade im Bereich der Kinderpornografie mehr Straftaten angezeigt, es gibt eine höhere Aufklärungsquote und das Personal – zum Beispiel bei der Polizei – wurde für diesen Bereich aufgestockt“, so die Expertinnen. Die Dunkelziffer sei aber noch immer immens hoch, „und es gibt keinen weißen Fleck auf der Landkarte“, ergänzt Petra Rottmann.

Die wenigsten Kinder, die sexuell missbraucht werden, vertrauen sich Eltern oder Freunden an. „Jeder sollte auf Veränderungen im Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen achten, bei Veränderungen sollte man hellhörig werden und Hilfe anbieten beziehungsweise aufsuchen“, sagt Felicitas Bettendorf.

Überbrückung bis zum Start der Therapie

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Wenn sich einst lebensfrohe, lebendige Kinder plötzlich zurückziehen und introvertiert geben, könnte das ein stiller Hilferuf sein. Genau wie im umgekehrten Fall – eigentlich ruhige, eher schüchterne Kinder, die ohne nach außen ersichtlichen Grund plötzlich ein aggressives, lautes Verhalten an den Tag legen, könnten ebenfalls Opfer sexualisierter Gewalt geworden sein.

Schwer traumatisierte junge Menschen werden zu Therapeuten überwiesen, „doch es kann dauern, bis eine Therapie beginnt“, wissen die beiden Frauen. Auf einen Therapietermin muss in der Regel vier bis sechs Monate, auf einen Platz in einer Klinik sogar acht bis zwölf Monate gewartet werden. „Wir versuchen, den jungen Menschen die Überbrückungszeit erträglicher zu machen und sie zu stabilisieren“, sagen die Expertinnen.

Weg von der reinen Opferperspektive

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Was ihnen wichtig ist? Dass jeder, der sexueller Gewalt ausgesetzt war oder ist, Hilfe bekommen kann. Und dass die Missbrauchten das Gefühl vermittelt bekommen, sich von einer „Opferperspektive“ wegbewegen zu können, um sich selbst wieder als handlungsfähig zu erleben.

Themenwechsel: Normalerweise können Mädchen ab 13, 14 Jahren, die Hilfe benötigen, in die Beratungsstelle kommen. „In der Coronazeit ist natürlich alles komplizierter, aber wir bieten dennoch Einzel- oder Zweierberatungen vor Ort an – natürlich mit Schutzmaske und Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln“, erläutert Petra Rottmann. Fortbildungsveranstaltungen für zum Beispiel Lehrer werden derzeit online in Form von Webinaren - angeboten. „Und wir telefonieren und chatten mit Betroffenen“.

Beratungsanfragen haben sich 2020 verdoppelt

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Im Corona-Jahr 2020 haben sich die Beratungsanfragen verdoppelt, „in dieser ungewissen Zeit, die für viele auch Einsamkeit bedeutet, erinnern sich einige auch an Übergriffe, die schon eine Zeit lang zurückliegen. Gewohnte Strukturen fallen weg, die seelische Belastung ist groß – da kommt vieles wieder hoch.“