Haspe. Die Kinderlähmung, ausgelöst vom Polio-Virus, war einst mindestens ebenso gefürchtet wie Corona. Ein Hagener Kinderarzt kämpft für die Ausrottung.
Das Corona-Virus hält die Welt im Bann. Es beherrscht die Schlagzeilen, mehr noch: Es beeinflusst das Alltagsleben zahlreicher Menschen. Ob wir es einst zurückdrängen können in jene Fernen eines chinesischen Dschungels, aus dem es über uns gekommen ist? Diese Frage kann auch Dr. Christian Schleuss (48), Kinderarzt in Haspe, nicht beantworten. Doch er kennt sich aus mit einem anderen Virus, einer Jahrtausende alten Geißel, die die Menschheit geplagt hat und heute doch so gut wie ausgerottet ist: dem Poliovirus. „Polio ist viel gefährlicher als Corona“, sagt Schleuss. Was nicht heißen solle, dass Corona ungefährlich sei.
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Seit vielen Jahren engagiert sich Schleuss im Kampf gegen Poliomyelitis, die gefürchtete Kinderlähmung. Diese vorwiegend im Kindesalter hervorgerufene Infektionskrankheit, die zu schwerwiegenden, bleibenden Lähmungen der Extremitäten führen kann und, sobald die Atemmuskulatur betroffen ist, tödlich wirkt, wird wie Covid 19 durch ein Virus hervorgerufen.
Lockdown in den 50er-Jahren
Und was Corona heute ist, war Polio in den 50er-Jahren: Um die Verbreitung einzudämmen, wurden Kinos, Schwimmbäder und Schulen geschlossen. Vor allem aber hatte eine breit angelegte Impfkampagne („Schluckimpfung ist süß“) Erfolg, in den 80er-Jahren gab es die letzte Polio-Infektion in Deutschland.
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Heute ist der Polio-Virus-Typ 3 durch Impfungen weltweit ausgerottet, das bestätigte die Weltgesundheitsorganisation in Genf. Es ist das erste Virus, das im neuen Jahrtausend verbannt werden konnte – nicht zuletzt dank einer Initiative der Rotarier und der finanziellen Unterstützung durch die Bill-Gates-Stiftung.
Nur noch in zwei Staaten nachweisbar
Polio-Virus-Typ 2 gilt bereits seit 1999 als offiziell besiegt. International angelegte Impfkampagnen konnten auch den letzten verbliebenen Virus-Typ 1 weit dezimieren – er ist heute nur noch in Pakistan und Afghanistan nachweisbar. Die Kinderlähmung ist fast besiegt, ein Meilenstein in der jüngeren Medizingeschichte. „Es ist die erfolgreichste Impfkampagne mit einer super Quote“, sagt Schleuss, der bei Rotary seit fünf Jahren als Polio-Experte aktiv ist.
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Doch mit seinem Verschwinden ist auch die Angst vor dem Virus und damit die Impfbereitschaft in der Bevölkerung gesunken. In einigen Regionen Deutschlands liege die Impfquote lediglich bei 60 Prozent, bedauert Schleuss und spricht von einer „Wohlstandsverwahrlosung“.
Darmvirus könnte zurückkehren
Dabei könne das Virus, etwa durch Flüchtlinge aus Staaten, in denen es nach wie vor auftritt, nach Deutschland zurückkehren, zumal die internationalen Impfkampagnen durch den weltweiten Corona-Lockdown monatelang ausgesetzt worden seien. Auch bei Reisen in betroffene Gebiete könne sich auch heute noch jeder mit den Darmviren anstecken, erklärt Schleuss, auch so könne die Kinderlähmung wieder nach Deutschland eingeschleppt werden. „Polio ist gleichzeitig unser größtes Friedensprojekt“, unterstreicht der Arzt: „Weltweit führen wir Gespräche, werben für Impfschutz und schaffen so Vertrauen.“
Engagierte Rotarier
Seit vielen Jahren engagiert sich der Hagener Rotary-Club für den Kampf gegen die Kinderlähmung. An der Fachhochschule fand 2017 der Hagener Poliotag statt, bei dem sich Mediziner, Aktive und Interessierte, aber auch Betroffene weiterbilden konnten.
Das große Hagener Engagement kommt nicht von ungefähr, denn der Hasper Kinder- und Jugendarzt Dr. Christian Schleuss ist für den Rotary-Distrikt, der in etwa das Gebiet von Westfalen umfasst, für das Polioprojekt verantwortlich.
Die Rotarier hatten in den 80er-Jahren auch die Idee zur Ausrottung der Kinderlähmung. Der Schluckimpfstoff wurde von dem Rotarier Albert Sabin entwickelt und machte das Programm erst möglich.
Wie Corona löst das Polio-Virus nicht bei allen Menschen, die sich infizieren, böse Folgeerscheinungen aus. Lähmungen würden nur bei wenigen Patienten auftreten, so Schleuss, der im Dienste der Rotarier bereits selbst im Ausland mit Fällen von Kinderlähmung in Berührung kam. Polio wird aber nicht über die Atemwege übertragen, sondern durch Schmier- und Kontaktinfektion.
Die derzeitige Corona-Pandemie hat Schleuss kommen sehen, Virologen hätten seit langem vor solch einem Ausbruch gewarnt: „Wir hatten in den vergangenen Jahren einfach Glück.“ Angesichts der oft unsachlichen Diskussionen fordert er dazu auf, auf dem Boden der medizinischen Erkenntnisse und der Wissenschaft zu bleiben.