Hagen. Er kann kaum lesen und schreiben. Ein schlimmer Unfall hat ihn aus der Bahn geworfen. Und doch geht ein Förderschüler aus Hagen seinen Weg.
Meicel kann so viele Geschichten erzählen. Tragische sind darunter. Geschichten, die Wut zurücklassen. Aber auch Geschichten, die Mut und Hoffnung machen. Meicels eigene Lebensgeschichte ist vor allem die eines Mannes, der zunächst weder lesen noch schreiben kann und trotzdem einen außergewöhnlichen Weg gegangen ist.
Bei den Geschichten, die Meicel aus seinem Leben erzählt, spielt immer wieder ein Mann eine Rolle, zu dem der heute 35-Jährige eine ganz besondere Beziehung entwickelt hat: Dr. Hans-Jürgen Schalk, einst sein Klassenlehrer und Leiter einer Förderschule für Lernbehinderte.
Der Zufall machte ihn zum Hagener
Von-Bodelschwingh-Schule besucht
Meicel Külhorn hat die Friedrich-von-Bodelschwingh-Förderschule in Wehringhausen an der Eugen-Richter-Straße besucht, Hans-Jürgen Schalk war hier lange Jahre Schulleiter.
An der Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule werden im Schuljahr 2019/2020 fast 200 Schüler von 25 Lehrern unterrichtet.
In den Klassen 1 bis 10 werden Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich Lern- und Entwicklungsstörungen (Förderschwerpunkt Lernen) gefördert.
Das bedeutet, dass die Kinder, um erfolgreich lernen zu können, kleinere Lerngruppen, sonderpädagogisch ausgebildete Lehrkräfte und individuelle Lernmethoden benötigen.
Die erste Geschichte, die Meicel erzählt, handelt davon, wie er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in Hagen landet. „Meine Mutter ist am Hauptbahnhof in Hannover zum Schalter gegangen, hat ihr letztes Geld aus der Tasche gezogen und gefragt, wie weit sie damit kommt“, sagt Meicel Kühlhorn. „Bis Hagen“, lautet die Antwort. So wird der junge Meicel Kühlhorn Hagener.
Einige seiner Geschichten handeln von Streit und Gewalt. So macht sich die Mutter auch allein mit ihren Kindern auf dem Weg, findet in Hagen zunächst Unterschlupf im Frauenhaus. Keine guten Startbedingungen für einen Neunjährigen, der ja noch ganz am Anfang seines Lebens steht.
Neustart an der Sonderschule für Lernbehinderte
Meicel, der bis zu diesem Zeitpunkt eine Sonderschule für Sprachbehinderte besucht hat, landet – nachdem er auf seinem ersten Grundschulzeugnis einen Notenschnitt nahe Fünf erreicht hat – in Hagen auf einer Sonderschule für Lernbehinderte. Man attestiert ihm eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, Meicel ist anerkannter Legastheniker. Längere Texte (wie dieser hier) sind ihm bis heute ein Graus. „Es ist für mich schwierig, aus Buchstaben ein Wort zusammenzusetzen“, sagt Meicel Kühlhorn, „bei Zahlen ist das ganz anders...“
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Als „glänzenden Mathematiker“ beschreibt Schalk den Schüler Meicel Kühlhorn. In der siebten Klasse lernt er ihn an der Sonderschule kennen. „In Mathe hätte er mit vielen Gymnasiasten mithalten können. Die Klassenarbeiten haben ihn völlig unterfordert. Nach zehn Minuten hat er ohne Fehler abgegeben.“
Ersparter Lohn für ein teures Kanu
Meicel arbeitet nach der Schule, trägt Zeitungen aus, spart das Geld, kauft sich selbst für 2000 Mark ein Kanu. Beim Sport auf der Lenne in Hohenlimburg und in einem Segelklub am Harkortsee spielt es keine Rolle, welche Schule er besucht. Das Lesen steht nicht im Vordergrund. Meicel, der Legastheniker, findet hier als Jugendlicher Bestätigung.
Aus seiner Schwäche aber macht Meicel nie ein Geheimnis. Auch nicht, als er sich um ein Praktikum bewirbt. „Das wäre ja sowieso irgendwann aufgefallen“, sagt er. „Ich habe versucht, mit dem zu überzeugen, was ich tue.“ Was dem Förderschüler, der immerhin den Hauptschulabschluss erreicht, gelingt. Erst als Praktikant bei der Stadtbäckerei Kamp, dann als Auszubildender. Von 30 Bäcker-Lehrlingen in der Berufsschulklasse kommen fünf ans Ziel. Meicel, der Förderschüler, ist einer von ihnen. Nur einer hat bessere Noten als er.
Schlimmer Unfall wirbelt Leben durcheinander
Dann passiert das, was Meicel Kühlhorn nur als „der Unfall“ bezeichnet. Ein tragisches Auto-Unglück, an das er keine Erinnerungen mehr hat, bei dem er in Flammen steht, bei dem weite Teile seiner Haut verbrennen. Acht Wochen lang liegt er im Koma. Acht Wochen, die für ihn wie ein großes, schwarzes Loch sind. Dass er eines Tages seine Augen aufschlägt, ist ein Wunder. Als die Pfleger fragen, wen sie verständigen sollen, sagt er: „Herrn Schalk.“
Zwei Jahre lang kann Meicel Kühlhorn nicht arbeiten. Der junge Mann wird zum Spielball zwischen den Sozialkassen, lebt von weniger als 400 Euro im Monat. Ergotherapie, Reha, selbst Medikamente – er muss um alles kämpfen. Es macht den Anschein, als sei der einstige Förderschüler Meicel Kühlhorn endlich dort gelandet, wo einige Menschen junge Männer wie ihn sehen. Unten in der Gesellschaft, ohne Einkommen, ohne Perspektive, ohne Chance.
Ex-Klassenlehrer am Krankenbett
Jürgen Schalk aber, der an seinem Krankenbett gesessen hat, glaubt an diesen einst so außergewöhnlichen Schüler. Er unterstützt, er hilft, er sucht gemeinsam mit Meicel, für den wegen der schweren Verbrennungen eine Arbeit am heißen Backofen nicht mehr in Frage kommt, nach einem Ausweg.
Lernen und Weiterbildung – das sind die ersten und die wichtigsten Schritte. Meicel („Ich habe die viele Freizeit genutzt“) besucht die Volkshochschule in Dortmund. Und obwohl er nur schlecht lesen und schreiben kann, schafft er die mittlere Reife – mit einer Fünf in Deutsch und „sonst nur Zweien“.
Umschulung als Perspektive auf dem Arbeitsmarkt
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Schritt zwei ist nach endlos langer Suche und durch die Unterstützung des Vereins „Fit for Future“ eine Umschulung zum Qualitätsfachmann für Längenprüftechnik beim Berufsförderungswerk in Thüringen. Wieder besteht der ehemalige Förderschüler mit der Lese-Rechtschreibschwäche die Prüfung ohne Probleme. Einen Job aber findet er nicht: Während im Osten viele Stellen ausgeschrieben sind, sucht Meicel nach seiner Rückkehr ins Ruhrgebiet vergeblich einen Job. „347 Bewerbungen habe ich losgeschickt“, sagt Meicel Kühlhorn, „347 Absagen habe ich erhalten.“
Dann das nächste kleine Wunder im Leben des Meicel Kühlhorn: Auf Bewerbung 348 erhält er eine Einladung zum Bewerbungsgespräch. Und: Weil er auch ein Angebot von jenem Betrieb bekommt, in dem er gerade ein Praktikum zum Übergang absolviert, hat Meicel Kühlhorn sogar die Wahl.
Ex-Förderschüler arbeitet in der Qualitätskontrolle
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Seit eineinhalb Jahren hat Meicel Kühlhorn wieder eine feste Anstellung. Er arbeitet in der Qualitätskontrolle eines Bochumer Unternehmens, das große Kupplungen für den Kran-, Seilbahn- und Schiffsbau produziert. Er arbeitet sich mühsam durch Fachbücher, wird zu einem geschätzten Experten auf seinem Gebiet.
„Ich kenne keinen zweiten Förderschüler, der sich so wie Meicel entwickelt hat“, sagt Hans-Jürgen Schalk. „jemand, der ganz normal lesen kann, kann kaum nachvollziehen, was es für ein Kraftakt ist, sich mit einer Leseschwäche allein auf Prüfungen vorzubereiten und diese auch noch zu bestehen. Es ist kaum zu glauben, welche Rückschläge er weggesteckt und wie er sich immer wieder selbst aus dem Sumpf gezogen hat.“
Meicel formuliert das so: „Ich war mal abgestempelt als Sonderschüler. Aber man darf sich nicht in einer Opferrolle sehen. Auch, wenn man mal Scheiße am Schuh hat, muss man einfach immer weiter vorangehen.“