Hagen. Dr. Bernd Liedtke, bis vor wenigen Wochen noch ranghöchster uniformierter Polizist in Hagen, hat als anerkannter Türkei-Experte den Streit um die Schulbuch-Karikatur eingeordnet. Er kann die Kritik der Hagener Bundestagsabgeordneten Cemile Giousouf inhaltlich nachvollziehen.
Der inoffizielle Titel „Dr. Türkei“ eilt ihm voraus. Dr. Bernd Liedtke, bis vor kurzem Hagens ranghöchster Polizist in Uniform, hat zum Thema „Entwicklung, Wandlung und Perspektiven Innerer Sicherheit in der Türkei“ promoviert. Bei der Polizei hat er einst eine Veranstaltungsreihe „Verstehen und verstanden werden“ initiiert, die das gegenseitige Verstehen von Deutschen und türkischstämmigen Hagenern in den Fokus gerückt hat.
Über den Abdruck einer Integrations-Karikatur in einem Schulbuch, die offenbar den ehemaligen türkischen Minister- und jetzigen Staatspräsidenten Erdoğan als Kettenhund zeigt, und die Reaktionen darauf, sprach unsere Redaktion mit dem Polizeidirektor a. D.
Die Hagener CDU-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Kreisvorsitzende Cemile Giousouf hat bei einem Besuch in Ankara den Abdruck der Karikatur in einem Schulbuch kritisiert und eine Entschuldigung gefordert. Wie sehen Sie das?
Dr. Bernd Liedtke: Inhaltlich zumindest teile ich im Grundsatz die Position von Frau Giousouf. Ich denke nicht, dass diese Karikatur in ein Schulbuch gehört. Zumal ich glaube, dass sich Zehntklässler nicht sonderlich gut mit dem politischen System und der Kultur der Türkei auskennen. Hinzu kommt, dass man bei einer solchen Publikation darauf achten sollte, Werte, auf die man sich verständigt hat, nicht in Frage zu stellen.
Wir Deutschen können aber doch über Karikaturen, in denen Kanzler oder Präsident verunglimpft werden, lachen. Warum fällt das Türken so schwer?
Liedtke: In der türkischen Republik gibt es ein spezifisches Bedürfnis nach Nationalstolz. Das geht zurück auf Kemal Atatürk und seine Modernisierungsideologie des Kemalismus. Ihm ist es gelungen, nach dem Niedergang des osmanischen Reiches die Republik vollständig neu zu gründen. Daraus resultiert ein ausgeprägter Nationalismus, der nicht vergleichbar ist mit dem hiesigen Patriotismus. Die große Mehrheit der Türken identifiziert sich vollkommen mit ihrem Staat und würden jederzeit ihr Leben für ihr Land geben. Von daher fühlt sich die Mehrzahl durch solch eine Karikatur, die geeignet ist, ihren Ministerpräsidenten herabzusetzen, kollektiv in ihrem Nationalstolz verletzt.
Gilt das auch für jene, die schon lange in Deutschland leben?
Liedtke: 90 Prozent der türkeistämmigen Community fühlen sich gut integriert. Aber wenn die türkische Seele in Ankara krankt, dann krankt auch ihre Seele noch.
Wie schätzen Sie selbst denn den Inhalt der Karikatur ein, die ja zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien?
Liedtke: Stein des Anstoßes ist ja vor allem der Hund namens Erdoğan, der an einer Kette vor seiner Hütte liegt. Dazu muss man sagen: Wenn tatsächlich der Staatspräsident gemeint ist, hat der Karikaturist das politische System und die türkische Seele nicht verstanden. Von 2007 an, nach vorgezogener Neuwahl, entmachtete Erdoğan sukzessive das Militär und schickte es wieder in die Kasernen. Danach regierte er zusehens autoritaristisch. Erdoğan wurde nie von irgendjemandem an die Kette gelegt.
Wie denken Sie über die Diskussionen rund um die umstrittene Karikatur?
Liedtke: Was würden wohl Oma Hertha und ihre Nachbarin Ayşe in Haspe sagen, wenn sie sich gemeinsam die Karikatur anschauen würden? Vermutlich würden sie lachen und einen Tee dabei trinken. Was ich damit sagen will: Ich rate wie die Superintendentin Verena Schmidt zu mehr Gelassenheit. Aber dazu neigen insbesondere politische Akteure nicht. Schade eigentlich. Und an das türkische Außenministerium gerichtet sage ich: Mit Islamophobie hat diese Karikatur nun wirklich gar nichts zu tun.