Gevelsberg. 25 Jahre lebte eine Gevelsbergerin mit einer psychischen Erkrankung, ohne dass eine Diagnose gestellt wurde. So sehr hat sie darunter gelitten.

„Ich habe voll einen an der Waffel. Mit Sahne und Kirschen oben drauf“, sagt Eva-Maria Schäfer und lacht. Dabei war ihr lange Zeit nicht zum Lachen zu Mute. Heute weiß sie, was in all den Jahren mit ihr los war, warum sie sich so oft so schlecht fühlte, dass sie unerkannt an einer psychischen Erkrankung litt. Jetzt kann sie mit all dem besser umgehen und vor allem offen darüber reden. „Ich weiß, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe“, sagt die 55 Jahre alter Gevelsbergerin, aber endlich wisse sie, wo sie ansetzen kann. Sie will anderen Betroffenen Mut machen, nicht aufzugeben, weiter zu kämpfen, auch wenn sie meint: „Das Netzwerk für psychisch Erkrankte hat riesige Löcher“.

Kommentar von Carmen Thomaschewski

Sie sitzt an einem der vielen Tische im Bürgerhaus Alte Johanneskirche. Das Psychoseseminar trifft sich an diesem Abend. In dieser Runde sind Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, Angehörige und vor allem Fachleute. In dieser Runde können sich alle einmal im Monat austauschen, das loswerden, was ihnen auf dem Herzen liegt. In diesem Treffen geht auch um die Fragen: „Wie ist psychiatrische Versorgungslandschaft im südlichen EN-Kreis? Was gibt es? Was wird gebraucht?“ Für Eva-Maria Schäfer ist die Antwort eindeutig. Es fehlt an zu vielem. Viele Menschen würden auf der Strecke bleiben und nicht die Hilfe bekommen, die sie benötigen.

Krisenhilfe im Notfall fehlt

Sie sagt, dass eine Odyssee hinter ihr liege, ein viel zu langer Leidensweg. Ihre Diagnosen hat sie erst vor etwa zwei Jahren bekommen. Angststörungen, Borderline um nur einige zu nennen. Heute ist ihr klar, dass sie schon als Kind psychische Probleme hatte. Damals galt sie aber nur als schwer erziehbar, halt schwierig. „Die Mutter trank, der Vater wollte mich nicht. Das zog sich wie ein Rattenschwanz durch mein Leben.“ Ihr Leben war schwer, schwerer als für andere. Sie habe selbst eine gesetzliche Betreuung beantragt, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste.

Lesen Sie auch: Eine Städtepartnerschaft die Generationen begeistert

Das Thema psychische Erkrankung sei erst vor etwa 25 Jahren aufgekommen, sagt sie. Als beim Arbeitsamt eine Begutachtung gemacht wurde, sie wollte damals eigentlich eine Umschulung machen. Es folgten viele Arztbesuche, falsche Diagnosen und „Therapien nach Schema F“, wie sie sagt. Sie habe oft gehört, dass sie zu kompliziert sei, die Probleme zu komplex, es sei oft Druck aufgebaut worden. „Doch bei Druck ziehe ich mich zurück, mache zu. Und irgendwann denkst du Dir, dass alles keinen Sinn hat.“ Dann seien suizidale Gedanken dazu gekommen. Alles wurde nur noch schlimmer. Sie sagt: „Ich habe mich nicht aufgehoben gefühlt.“

Lesen Sie auch: Ein Jahr Wartezeit auf Therapeuten

Doch sie hat nicht aufgegeben. Nahm lange Wartezeiten in Kauf, lernte verschiedene Therapeutinnen und Therapeuten kennen, war in stationären und ambulanten Einrichtungen. „Es steht und fällt mit dem Personal“, sagt sie. Ob sie auf einen eingehen, sich die Mühe machen, auch mit schwierigen Themen umzugehen. Vieles sei leider von oben herab passiert. Bei Menschen, die psychisch in einer schlechten Verfassung sind, sei das kontraproduktiv. Sie versteht, warum das System ist, wie es ist. Es gebe zu viele Patienten für zu wenig Therapeuten, zu wenig Fachärzte und noch weniger Plätze in Einrichtungen. Hier müsse man ansetzen, Anreize schaffen, neue Angebote entwickeln, das Netzwerk enger knüpfen. Die Politik sei gefragt, das Gesundheitssystem.

Zu wenig Therapeuten

Als sie dann vor zwei Jahren erneut in der Tagesklinik der Fliedner-Klinik war, habe sie das erste Mal professionelle Hilfe auf Augenhöhe erlebt. Ein Miteinander, man habe sich Zeit genommen, ihr zugehört. Das hat ihr Leben verändert. Sie habe endlich verstanden, was mit ihr los ist. „Das heißt nicht, dass es mir plötzlich gut geht“, sagt sie.

Nächster Termin am 25. Mai

Im Psychoseseminar der Kiss geht es nicht nur darum, Lücken im System festzustellen und sich für Lösungen stark zu machen. In den monatlichen Treffen geht es auch um andere Themen wie Psyche und Sucht, spezielle Diagnosen und Krankheitsbilder, Erfahrungsaustausch und Netzwerkbildung.

Mit dabei sind Vertreter der Kontakt- und Krisenhilfe, Selbsthilfegruppen, der EN-Kreis mit seinem Sozialpsychiatrischen Dienst, Psychiatriekoordination, Betroffene, Ehrenamtliche, Institutionen: Angebote gibt es einige, abseits der klassischen Therapien, doch sie erreichen nicht alle.

Am Mittwoch, 24. Mai, 18 bis 20 Uhr, soll es in den Räumen der Kiss in Gevelsberg eine Nachbesprechung zum Thema „Was fehlt in EN-Süd“ geben. Interessierte sind herzlich willkommen.

Sie weiß, dass sie an sich arbeiten muss, aber sie habe endlich die richtigen Medikamente und die richtige Unterstützung. Und sie weiß, was zu tun ist, wenn es wieder besonders schlimm ist. Doch auch hier fehle es an allen Ecken und Enden. „Wir brauchen einen psychischen Notdienst, eine 24 Stunden-Krisenhilfe, wie es sie in Dortmund gibt.“ Die Gevelsbergerin weiß: Das Gedankenkarussell drehe sich vor allem nachts. Nicht alle haben einen Menschen, mit dem sie rund um die Uhr reden können, selbst wenn man in einer Partnerschaft ist.

Lesen Sie auch: Tunnel neben Kruiner Tunnel sichere Lösung?

Als sie in einer stationären Einrichtung war, habe man der Gevelsbergerin gesagt, dass sie den Notarzt rufen könne, um in die Klinik zu kommen, um Schlimmeres zu verhindern. Das habe sie getan. „Wir sind doch kein Taxi-Unternehmen“, habe man zu ihr gesagt. Mal eben 50 Euro zahlen, um nach Herdecke zu kommen, hier gibt es eine der beiden stationären Einrichtungen im EN-Kreis, das könnten sich die wenigsten leisten. „Ein Krisendienst mit Menschen mit Fachkenntnissen, das vermisse ich hier“, sagt auch Barbara Waldhart von der Kontakt- und Krisenhilfe.

Lange Wartezeiten

Doch nicht nur an der Krisenversorgung fehlt es. Alle Beteiligten des Psychoseseminars sind sich einig: Es fehlt an zahlbaren Wohnraum und betreuten Wohnformen. Stationäre Einrichtungen wie das Haus an der Kirche in Ennepetal oder die Bethel-Einrichtung in Gevelsberg hätten lange Wartezeiten und richten sich eher an besonders hilfebedürftige Menschen, dazu gibt es betreutes Wohnen in Wohngemeinschaften. „Aber etwas zwischen Heim und alleine Leben müsste es auch geben“, sagt Eva-Maria Schäfer. Eigene Wohnungen mit zusätzlicher Betreuung. So etwas wie „Stäb“. Diese sogenannte Stationsäquivalente Behandlung ist wie eine Krankenhausbehandlung nur eben zu Hause. Es ist ein Konzept, das in Dortmund funktioniert. Doch im Ennepe-Ruhr-Kreis gibt es so etwas nicht. Leider.

Lesen Sie auch: Wird Schillerstraße zur Einbahnstraße?

Und noch eine Frage, die Eva-Maria Schäfer beschäftigt. Sie hat eine Arbeit in der Werkstatt, die feste Tagesstruktur tut ihr gut. „Doch was ist, wenn ich zu alt bin und die Knochen nicht mehr mitspielen?“ Wo habe ich dann einen Platz? In einem Seniorenheim? Nehmen die psychisch Beeinträchtigte? Können sie mit ihnen umgehen und die Hilfe geben, die benötigt wird? Die Fragen beschäftigen die Gevelsbergerin. Konkrete Antworten gibt es nicht. Auch hier gebe es noch Lücken, weiß Barbara Waldhart. Im Bereich Wohnen sei noch einiges ausbaufähig.

Die Mitglieder des Psychose-Seminars wollen sich stark dafür machen, dass zusätzliche Hilfe geschaffen wird und das vorhandene Netzwerke noch besser zusammenarbeiten, um die Lücken etwas kleiner werden zu lassen. Eva-Maria Schäfer will dabei helfen, dass sich die Strukturen im EN-Kreis ändern. In dem sie offen über ihre Geschichte spricht.

+++ Nichts mehr verpassen: Bestellen Sie hier unseren Newsletter aus Ennepetal, Gevelsberg und Schwelm+++

„Es sollen alle wissen, wie schwer es ist, die richtige Hilfe zu bekommen. Vielleicht sorgt das dafür, dass es sich etwas ändert.“ Wenn man den Mensch sieht und nicht nur die blanken Zahlen.