Schwelm. Der Bedarf riesig. Der Sozial-Psychiatrische Dienst des Ennepe-Ruhr-Kreis sagt: Es gibt zu wenig Psychotherapeuten. Das sind die Folgen.

Die Lage ist dramatisch: Wer psychologische Hilfe von einem Therapeuten benötigt, muss lange darauf warten. Viel zu lange aus Sicht des Sozial-Psychiatrischen Dienstes des Ennepe-Ruhr-Kreises. Die Einrichtung im Schwelmer Kreishaus ist erste Anlaufstelle für Menschen in Krisensituationen, bietet kostenlos Beratungen, begleitet psychisch Kranke im Alltag und vermittelt an unterschiedliche Hilfsangebote. Doch eine Therapie könne dadurch nicht ersetzt werden, erklärt Dr. med. Corinna Schweflinghaus. Sie leitet die Einrichtung und weiß, dass oftmals viele Monate vergehen, ehe Hilfesuchende die richtige Unterstützung erhalten. In den meisten Fällen betrage die Wartezeit mehr als ein Jahr.

Darum dürfen nicht alle Psychologen therapieren

Was macht ein Psychiater? Und wie ist der Unterschied zu einem Psychologen? Hier gibt es eine Begriffserklärung, die die KVWL zur Verfügung gestellt hat.

Psychiater und Neurologen werden als Nervenärzte bezeichnet (früher Facharzt für Nervenheilkunde). Fachlich ist die Bezeichnung identisch mit dem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Heute wird das Tätigkeitsfeld des Nervenarztes zu einem Teil vom Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie abgedeckt.

Psychotherapie ist die professionelle Behandlung von psychischen Störungen mit psychologischen Mitteln. Es gibt ärztliche und psychologische Psychotherapeuten. Psychologe ist zunächst einmal jemand, der ein Hochschulstudium der Psychologie abgeschlossen hat. Nach dem Studium kann der Psychologe eine mehrjährige Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten machen. Diese Zusatz-Ausbildung macht den Unterschied zwischen einem Psychologen und einem Psychotherapeuten aus.

Wer an einer psychischen Krankheit leidet, etwa an einer Depression oder einer Sucht, geht also zum Psychiater oder zum Psychotherapeuten. Zum Psychologen gehen psychisch Kranke eigentlich nicht, denn ein Psychologe behandelt keine Krankheiten; dazu fehlt ihm die therapeutische Ausbildung.

Der Unterschied zwischen Psychiatern und Psychotherapeuten besteht auch darin, dass der Psychiater Medikamente verschreiben darf, zum Beispiel Psychopharmaka, und eine Krankschreibung ausstellen darf. Ein (psychologischer) Psychotherapeut darf das nicht, weil er nicht Medizin studiert hat.

Die KVWL weist auf die Internetsuche bei Ärzten (www.kvwl.de/arztsuche) und die Terminservicestelle unter 116 117 hin. Dabei sei allerdings zu beachten, dass es sich bei dem vermittelten Termin nicht um einen Wunschtermin bei einem Wunscharzt handelt. Die Terminservicestelle vermittelt Termine bei Ärzten, die über freie Kapazitäten verfügen.

Das Problem ist nicht neu, doch es habe sich in den vergangenen Monaten verschärft. Energiekrise, Beziehungsprobleme, Sucht: Es gibt viele Themen, die die Menschen beschäftigen und die sie krank machen. „Die Menschen haben sich während Corona mehr ins Private zurück gezogen“, erklärt ihr Kollege Birger Reith. Der Alkoholkonsum vieler sei messbar gestiegen, Einsamkeit werde ein immer größeres Problem, Depressionen mehren sich. Er sagt: Immer mehr Menschen würden Hilfe benötigen. Das zeige sich auch in der steigenden Zahl der Beratungen des Sozial-Psychiatrischen Dienstes. Die Themen, die Menschen beschäftigen, seien vielfältig. Aktuell stehen vor allem die die Energiekrise und der Wohnungsmarkt im Fokus. „Hier ist gerade eine absolute Eskalation zu erleben“, sagt Birger Reith und erklärt: Für Alleinstehende sei es derzeit fast aussichtslos, eine bezahlbare Wohnung zu finden.

KVWL nennt Zahlen

In einigen Fällen reiche es schon, wenn die Betroffenen eine Beratung an der richtigen Stelle erhalten, wie etwa im Evangelischen Beratungszentrum in Ennepetal oder Unterstützung dabei, die richtigen Anträge zu stellen. Doch oft eben auch nicht. Es seien vor allem psychische Erkrankungen, die dazu führen, dass der Alltag nicht mehr bewältigt werden kann, man erst recht in Notlagen gerate. Dann sei der Druck groß, schnell therapeutische Hilfe zu bekommen. Gerade das sei das Problem. „Es gibt nicht ausreichend Psychotherapeuten im Südkreis“, sagt Corinna Schweflinghaus.

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Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe bestätigt auf Nachfrage dieser Zeitung, dass die „Nachfrage“ nach Psychotherapie gestiegen sei. Was aus ihrer Sicht damit zu tun habe, dass die Menschen in Deutschland heute eher als noch vor einigen Jahren bereit seien, bei psychischen Krankheitsbildern einen Psychotherapeuten aufzusuchen. „Darüber hinaus haben sich auch die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten verbessert und weiterentwickelt, sodass die Versorgung psychischer Probleme mittlerweile viel differenzierter erfolgen kann.“ Zu Wartezeiten machte die KVWL keine Angaben, dafür aber zur psychotherapeutischen und nervenärztlichen Versorgung. „Im Ennepe-Ruhr-Kreis gibt es derzeit 85 volle Stellen, die von 140 Therapeuten besetzt werden, der psychotherapeutische Versorgungsgrad beträgt im Moment 136 Prozent.“

Anreize schaffen

Aus Sicht der KVWL gibt es also keine Unterversorgung. Corinna Schweflinghaus vom Sozial-Psychiatrischen Dienst sieht das ganz anders. Viele Therapeuten seien in den großen Städten mit weitem Einzugsbereich wie Hattingen (34 Therapeuten) und Witten (48) niedergelassen (siehe Tabelle). „Die ländlichen Gebiete sind unterversorgt, die Wartezeiten enorm.“

https://www.waz.de/archiv-daten/wp-gevelsberg-psychotherapeuten-id237301811.htmlIn Ennepetal und Breckerfeld gebe es jeweils nur zwei Therapeuten, die psychisch Erkrankte therapieren dürfen. „Man kann von einem Betroffenen nicht erwarten, dass er 90 Minuten mit dem Bus unterwegs ist“, sagt Corinna Schweflinghaus. Das schaffe er alleine schon wegen seiner Erkrankung nicht. Die KVWL habe versucht, die Wartezeit mit den sogenannten Akut-Sprechstunden zu entschärfen, das heißt, dass Therapeuten entsprechende Termine anbieten müssten, um zu schauen, ob tatsächlich eine Therapie notwendig ist. Jeder müsse gewissen Kapazitäten vorhalten. „Doch einen garantierten Platz im Anschluss für eine Therapie gibt es damit nicht. Viele Ärzte und Therapeuten würden gar keine neue Patienten mehr annehmen“, erklärt Birger Reith. Corinna Schweflinghaus macht deutlich: „Der Besuch beim Psychiater ist zur Abklärung der Erkrankung in vertrauensvollen Gesprächen und ggf. einer Medikation wichtiger Baustein in der Versorgung.“ Es gebe zwar mittlerweile Online-Sprechstunden, Apps, die unterstützen sollen und bei Lebensgefahr könne man immer noch vom Hausarzt eingewiesen werden. Doch das sei alles keine ausreichende Versorgung.

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Wie man diese Situation entschärfen kann? Anreize schaffen, dass sich Psychotherapeuten auch in ländlichen Gebieten niederlassen, die Zahl der Sitze erhöhen, damit sich mehr im Kreis niederlassen können, erklären die beiden vom Sozial-Psychiatrischen Dienst. Ihr Team besteht aus 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, überwiegend in Teilzeit. „Wir könnten auch viel mehr Menschen beschäftigen, weil so viel zu tun ist“, erklärt Corinna Schweflinghaus. Wer einen Termin benötigt, erhalte ihn innerhalb weniger Tage. Es gebe ein großes Hilfsnetz, man könne auf vielfältige Weise unterstützen. Doch Therapien gehören nicht dazu, das sei den Psychotherapeuten und Psychiatern vorbehalten (siehe Zweittext).

Wartezeiten, die im zweistelligen Monatsbereich liegen, seien nicht tragbar, sagt Birger Reith.

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