Gevelsberg. Während der Kollege angeschossen am Boden liegt, flüchten zwei Polizistinnen in Gevelsberg. Nun wird ihr Fall vor Gericht neu verhandelt.

Werden Nadine A. (33) und Patricia B. (38) jemals wieder als Polizistinnen arbeiten dürfen, nachdem sie einen niedergeschossenen Kollegen und dessen Streifenpartner im Kugelhagel allein ließen und vor der Situation flüchteten? Ein knappes Jahr nach dem Verfahren gegen die beiden Beamtinnen wird sich das Landgericht Hagen mit exakt dieser Frage und den Vorgängen in Gevelsberg im Rahmen der Berufungsverhandlung beschäftigen. Laut des Urteils des Amtsgerichts Schwelm würden sie ihren Beamtenstatus verlieren und dauerhaft aus dem Polizeidienst ausscheiden.

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Ihr Verhalten in der Nacht auf den 6. Mai 2020 hatte für Aufruhr in ganz Deutschland gesorgt – insbesondere in Polizeikreisen. Vitalij K. hatten im Rahmen einer Polizeikontrolle plötzlich das Feuer mit einer scharfen Pistole auf zwei Polizeibeamte eröffnet. Eine Kugel traf einen der beiden in die schusssichere Weste, er ging zu Boden. Der Zweite erwiderte das Feuer auf K., dem dennoch die Flucht gelang. Vollgepumpt bis in die Haarspitzen mit Kokain versteckte er sich stundenlang bewaffnet in der Gevelsberger Innenstadt, schoss später auch auf die SEK-Beamten, die ihn überwältigten.

Aktuell dem Dienst enthoben

Nadine A. und Patricia B. waren unmittelbar vor den Schüssen auf ihre Kollegen an der Kontrollstelle vorbeigefahren, hatten die Situation die aus dem Ruder lief gesehen, waren angehalten und ausgestiegen. In ihrem Gerichtsverfahren, das vor dem Amtsgericht Schwelm stattfand – wegen des großen nationalen Medienaufkommens allerdings im Gebäude des Landgerichts Hagen abgehalten wurde – hatten beide ausgesagt, dass sie gesehen hätten, wie ihr angeschossener Kollege zu Boden gegangen sei. Dennoch ergriffen sie die Flucht zu Fuß, zwangen eine junge Frau, die bei einem ambulanten Pflegedienst arbeitet, sie mehr als eineinhalb Kilometer vom Tatort wegzufahren und ihnen ihr Handy auszuhändigen.

Patricia B. (links) und Nadine A. (2. von rechts) in der Einsatznacht in Gevelsberg. Nach ihrer Flucht sind sie an einer Straßensperre eingesetzt worden.
Patricia B. (links) und Nadine A. (2. von rechts) in der Einsatznacht in Gevelsberg. Nach ihrer Flucht sind sie an einer Straßensperre eingesetzt worden. © Alex Talash | Alex Talash

Die Frage, die Richterin Anna Walther zu klären hatte: Hätten sie in ihrer Pflicht als Polizeibeamtinnen anders handeln müssen und haben sie sich der versuchten gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen schuldig gemacht? Für die Verteidiger der beiden Frauen war damals klar: Wenn sie versucht hätten einzuschreiten, hätten sie weder den Kollegen helfen, noch K. an der Flucht hindern können. Auch die beiden Kollegen, die unter Beschuss gestanden hatten, waren A. und B. im Zeugenstand schützend zur Seite gesprungen und hatten ihr Verhalten als nicht schädlich beurteilt. Das bewerteten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Richterin gänzlich anders. „Ich kann ihre Todesangst nicht nachempfinden, aber verstehen. Dennoch ist es so, dass man als Polizeibeamter rein rechtlich anders reagieren muss“, sagte Richterin Anna Walther. Folge: Ein Jahr auf Bewährung und damit Entzug des Beamtenstatus’ und Entfernung aus dem Polizeidienst.

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Bereits damals hatte die Verteidigung angekündigt, Berufung einzulegen, nun beginnt dieses Verfahren am kommenden Montag, 26. September, vor dem Hagener Landgericht. „Die komplette Beweisaufnahme wird noch einmal aufgerollt“, teilt Richter Marcus Teich, Sprecher des Landgerichts, auf Nachfrage der Redaktion mit. War Patricia B. zum Zeitpunkt des Verfahrens Ende November 2021 in Elternzeit und Nadine A. im Innendienst, sind die beiden mittlerweile ihres Dienstes enthoben und bekommen nur noch einen Teil ihrer Bezüge.

Bangen um den Job

Für sie gibt es nun drei Möglichkeiten. Erstens: Das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts bleibt bestehen und sie würden den Polizeidienst verlassen, ihren Beamtenstatus verlieren. Zweitens: Auch das Hagener Landgericht spricht die beiden schuldig, aber mit einer Strafe von unter einem Jahr. Sie würden ihren Beamtenstatus behalten, dürften weiter im Polizeidienst arbeiten. Allerdings würde Landrat Olaf Schade dann das behördeninterne Disziplinarverfahren gegen die beiden Frauen eröffnen. Dies ist für die Dauer des Strafverfahrens ausgesetzt, wäre bei einer Strafe von mehr als einem Jahr ohnehin obsolet. Drittens: Das Landgericht spricht die beiden frei. In diesem Fall hätten sie strafrechtlich keinerlei Konsequenzen zu tragen, das schließt aber nicht aus, dass der Dienstherr gegen A. und B. dennoch das Disziplinarverfahren eröffnet.

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Aber: Auch das bald erfolgende Urteil des Landgerichts in der Berufungsverhandlung muss noch nicht das Ende der Sache sein. Sowohl die beiden Frauen als auch die Staatsanwaltschaft könnten noch Revision gegen dieses zweite Urteil einlegen, so dass der Bundesgerichtshof in Karlsruhe dieses auf formale Fehler überprüfen würde.