Arnsberg. Die Juristin und Schriftstellerin Yuliia Bohdanova kam aus der Ukraine: Sie schreibt selbst über Krieg, Flucht und das Ankommen in Arnsberg:

Zunächst möchte ich Deutschland im Namen aller Ukrainerinnen und Ukrainer, die in diesem Land Asyl und Schutz erhalten haben, meinen Dank aussprechen. Ich danke auch der schönen Stadt Arnsberg, den Beamten, Wohltätigkeitsorganisationen und Freiwilligen.

Letztendlich allen, die unsere Evakuierung und unser Ankommen organisiert haben. Und auch allen, die finanzielle und psychologische Unterstützung geleistet haben und weiterhin leisten. Vielen Dank!

Reale Erfahrungen

Yuliia Bohdanova kam Anfang März mit einem der rettenden Transporte aus der Ukraine nach Arnsberg (wir berichteten). Die Juristin war Anwältin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin in der Ukraine, lebte in Kiew und führte ein weitgehend sorgloses Leben - bis zu dem Tag, als die ersten Bomben fielen. Nun, in Arnsberg, stehen ihr große Hürden bevor: Deutsch zu lernen und sich in einen Job zu integrieren.

Mit ihrem Artikel möchte sie sensibilisieren, Erfahrungen teilen und sich im Namen all der Menschen für die herzliche Aufnahme in Deutschland, insbesondere Arnsberg, bedanken.

Der Originalbeitrag ist auf Russisch verfasst und von ihr selbst ins Englische übersetzt worden. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Thora Meißner, unserer Redakteurin.

Dies ist ein Artikel über ukrainische Flüchtlinge und die Menschen, die sich um sie kümmern. Aber um das Problem zu verstehen, ist es notwendig, am Anfang zu beginnen - dem Krieg. Mit dem Krieg, der zum Grund dafür wurde, dass Millionen von Ukrainern alles aufgeben mussten, was sie in der Ukraine hatten.

Ihre Jobs, ihre Häuser. Freunde, Liebe, Heimat.

Menschlicher Schutzschild in der Ukraine: Frauen, Kinder und Ältere

Allgemein wird oft gesagt, dass der Krieg in der Ukraine unerwartet begann. So unerwartet, dass ausländische Geheimdienste schon lange vorher vor einem Angriff warnten. Ich möchte hier aber nicht auf die Politik eingehen, sondern auf die Menschen und auf den Preis des menschlichen Lebens.

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Die Ukraine kämpft in diesem Krieg nicht für sich allein. Ein atomwaffenfreies Land nach dem Budapester Memorandum stellt sich als menschlicher Schutzschild dem russischen Regime in den Weg. Versperrt den Westen. Menschlicher Schutzschild im wahrsten Sinne des Wortes. Gemeint sind nicht die Soldaten, sondern die Zivilisten: Kinder, Frauen, Senioren – all sie wurden unter feindlichem Beschuss zu Kanonenfutter. Getötet, verletzt, verkrüppelt - verloren ihre Häuser und Ersparnisse, einfach alles, was sie sich hart erarbeiteten. Nur die Hoffnung auf Hilfe bleibt. Denn sie stirbt zuletzt – mit dem Menschen.

Aus dem Bunker, der keiner ist

Der Luftschutzbunker war in unserem Fall ein einfacher Keller eines mehrstöckigen Hauses. Drinnen gefährlicher als draußen. Denn wenn es einstürzte, bedeutete dies einen langen und schmerzhaften Tod unter Trümmern. Ich war dort. Ich beschloss aber, in meinem warmen Bett zu sterben, wenn.

Aber mein Freund aus Charkiw hatte mehr als eine Nacht im Keller verbracht. Charkiw wurde Opfer fieser Bomben. Dort derselbe winzige, feuchte Keller in einem Mehrfamilienhaus. Der „Bunker“ war vollgestopft mit Menschen – Frauen, weinende Kindern, alte Menschen und unter ihnen auch ein Obdachloser.

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Luftangriffsalarm. Alle warten nervös. Plötzlich sagt der Obdachlose: „Der Attentäter nähert sich“. Alle dachten, er sei verrückt. Grollen. „Das ist die erste Bombe“, sagt er. Ein paar Sekunden später. Erneutes Grollen. „Die zweite Bombe.“ Und wieder eine Explosion. „Die dritte.“ Die Wände zitterten, Putz fiel von der Decke auf die Köpfe. „ Die Letzte“, flüstert der Obdachlose, „Hab keine Angst, das ist die Letzte. Er hat keine mehr und der Treibstoff geht aus.“ „Woher weißt du das?“, fragten sie erstaunt. „Ich war Militärpilot. In einem früheren Leben. Ich war in Gefangenschaft, als ich für tot erklärt wurde.“

Immer mehr zerstörte Privathäuser in Kiew, Ukraine. 
Immer mehr zerstörte Privathäuser in Kiew, Ukraine.  © Privat

Ein paar Tage später starb er tatsächlich. Nur wenige Menschen aus dem Bunker überlebten. Mein Freund verlor bei der Explosion seinen Arm. Er war Schauspieler und Musiker. Ein Gitarrist. Vorher.

Vier Stunden später gelang es einem Krankenwagen, den Bunker zu erreichen. Die ersten schwer verletzten Menschen wurden in den Krankenwagen gebracht. Er fuhr gerade los, als in der Kurve Granaten fielen. Er wurde getroffen.

Die Welt: Kampf zwischen Gut und Böse

Egal wie naiv es klingt, unsere Welt ist ein Kampf zwischen Gut und Böse. Unser Weg war gefährlich und voller Strapazen. Wir standen unter Raketenbeschuss. Der Zug, der uns in Sicherheit bringen sollte, war überfüllt. So viele Menschen, dass sogar eine Entgleisung befürchtet wurde. Wir fuhren acht Stunden von Kiew nach Lemberg. Keine Möglichkeit, zum WC zu kommen. Kein Licht in den Waggons.

Ich erinnere mich an den ersten Stopp irgendwo außerhalb der Region Kiew. Viele verzweifelte Menschen versuchten, noch irgendwie in den Zug zu kommen. Keine Chance. Ein Mann klopfte hysterisch an das Fenster und hielt ein kleines Kind nach oben. Doch es ging nicht. Der nächste Halt war in Chmelnyzkyj. Wieder klopften Menschen auf dem Bahnsteig an die Fenster.

„Gib mir Brot! Brot!“

Wir öffnen. Sie gaben uns Körbe mit Essen: Wurst, Kartoffeln, Knödel, Suppe. „Gib mir Brot! Brot!“ Das erste Mal nach zehn Tagen Krieg, dass ich ein Stück Brot aß. Es schmeckte köstlich.

Am Bahnhof von Lwiw war alles wie in einem Film über den Zweiten Weltkrieg. Ein Gedränge ohne Ende. Ein Meer von Menschen mit blauen Säcken. Vom Bahnsteig bis zum Bahnhofsgebäude standen wir in der heftigen Februarkälte viele Stunden lang Schulter an Schulter.

Ein zerstörtes Auto mitten auf der Straße in Kiew, Ukraine. 
Ein zerstörtes Auto mitten auf der Straße in Kiew, Ukraine.  © Privat

Auf dem Platz gab es mobile Küchen. Viel Trubel. Und eine Gruppe freiwilliger Helfer. Ich fragte einen von ihnen, wo die Busse ins Ausland abfahren. Er war gerade abgefahren. Außerdem brauchte ich ein Ticket. Die gesamte Nacht wartete ich in der Kälte darauf, das Ticket in die Sicherheit zu bekommen.

Nach und nach spürte ich weder Hände noch Füße. Mein Körper erstarrte. Geld wurde wertlos.

Panorama auf Arnsberg

Die Grenze zu Deutschland überquerte ich mit einer dicken Erkältung. Mit einem Wollschal, den mir ein polnischer Freiwilliger gegeben hatte. Ich wurde direkt nach Arnsberg gefahren. Als Flüchtling aus der Ukraine. Im Flüchtlingslager fiel ich direkt ins Bett und schlief zwei Tage durch.

Als ich erwachte und auf den Balkon ging, öffnete sich mir ein atemberaubendes Panorama auf Arnsberg. Hohe Hügel versanken in Wolken wie auf chinesischen Aquarellen. Eine kleine ruhige Stadt unter einem endlosen Himmel. Läutende Uhr am Rathaus. Häuser mit Ziegeldächern. Mein Herz wurde ohnmächtig.

Vorher - nachher: Schutz in Arnsberg - kein Schutz in der Ukraine

Es war, als teile sich mein Leben: Yuliia vor dem Krieg und – danach.

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Die Sozialarbeiter und Freiwilligen im Camp umgaben uns mit solcher Wärme und Fürsorge, dass wir keine Zeit hatten, über den Krieg und unsere Flucht nachzudenken. Das Lager war sehr gut, wahrscheinlich eines der besten in Deutschland. Geräumige Zimmer, drei Mahlzeiten am Tag. Wir bekamen alles Notwendige in unbegrenzten Mengen, Badartikel, Kleidung, Medikamente, medizinische Versorgung - alles, was wir brauchten. Sogar Deutschunterricht am Abend.

Ein Funken Hoffnung für mich - aber keine Erlösung für die Ukraine.