Arnsberg. Morgens Anwältin, abends Schriftstellerin. Das Leben von Julia in Kiew (Ukraine) ist erfüllt. Jetzt ist sie Flüchtling in Arnsberg. Das sagt sie:
„Everything is gone“ (alles ist weg), sagt Julia B., „ich existiere im Hier und Jetzt“. Sie spricht von Hab und Gut, aber auch vom Kontakt zu Freunden und Arbeitskollegen. Sie meint ihre Heimat, ihren Beruf. Ihr gesamtes Leben in der Ukraine. Was bleibt, sind ihre Erinnerungen - doch die bringen Schatten mit sich. Julia B. ist eine der vielen schutzsuchenden Frauen, die während der Evakuierung im März 2022 direkt von der polnischen Grenze nach Arnsberg gebracht werden. Gemeinsam mit ihrer Mutter.
„Wir wussten, dass wir nach Deutschland fahren - wir wussten nicht, wohin es konkret geht”, sagt sie. Mit dem Konflikt lebe man in der Ukraine bereits seit 2014 - doch diese Dimension des Krieges habe hunderttausende Menschen heimatlos gemacht. Julia B. weiß nicht, was aus ihren Kollegen geworden ist. Nicht einmal, ob ihre erst kürzlich gekaufte Wohnung in Kiew noch existiert.
Juristin, Schriftstellerin und Hobby-Fashion-Designerin
Morgens Rechtsanwältin, abends Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Songwriter. Das Leben von Julia B. in Kiew ist erfüllt. Und erfolgreich. Denn sie ist einerseits als Juristin aktiv und veröffentlicht zahlreiche schriftstellerische Stücke. „The Sun“ (Social Science-Fiction), „Allies“ (Militär-Drama) oder auch „23rd“ (Psychological Drama) sind einige ihrer Herzensprojekte der letzten Jahre. Sie ist Mitglied im Schriftstellerverband der Ukraine seit 2001.
Ihre Werke wurden sogar in vielen ausländischen Zeitschriften veröffentlicht. Als Songwriterin schreibt sie das Stück „Napoleon and the Corsican” des russischen Dramatheaters.
Als Single genießt sie ihr juristisches und kreatives Leben. Sie liebt zudem das Malen mit Aquarell und macht viel Sport. Klettern zählt zu ihren Hobbys. Ein ganz normales Leben - bis zum 24. Februar 2022 . Der Tag, der das Leben vieler Menschen in der Ukraine auf den Kopf stellt - oder sogar beendet.
Julia und ihre Mutter bleiben am Leben. Verlieren jedoch alles. Ihre Wurzeln. Ihr Dasein. Und zuletzt auch ihre Hoffnung.
Verlorenes Leben in Kiew
Diese Tage prägen das Leben der jungen Frau. Die Sirenen, wenn Luftangriffe erfolgen, ziehen sich wie eine Peitsche durch den gesamten Körper. Jedes Mal aufs Neue überkommt sie eine gewisse Ohnmacht. „Ich dachte nie ans Morgen”, so Julia B., „daran hat niemand gedacht. Wir wussten ja nie, wo die nächste Bombe herunterkommen würde. Vielleicht direkt über uns?” Julia B. und viele Mitmenschen verstecken sich im Keller.
Denn einen richtigen Bunker gibt es nicht. Sie habe an nichts gedacht. Nicht an ihren Beruf, nicht an ihr Hobby, nicht an ihre Zukunft. Es sei allen nur ums pure Überleben gegangen, erzählt Julia B. Auch heute noch hemmt Angst die Gedanken - ihre Augen erzählen es.
Über eine von der Regierung organisierte Evakuierung landen Julia B. und ihre Mutter nach zehn Tagen in einem der Busse von Kiew nach Lwiw. Sie werden aufgenommen, erstversorgt und verbringen auch hier viel Zeit „in Bunkern”. Denn so weit weg sind die Bomben nicht. Etwa zehn Tage später werden sie zur polnischen Grenze gebracht - und von dort aus direkt mit Bussen nach Deutschland. Julia B. und ihre Mutter leben nun in Arnsberg.
Start ins neue Leben in Arnsberg
Spürbar ist, wie schwer es Julia B. fällt, über diese Erinnerungen zu sprechen. Doch sie sind in ihrem Kopf. Und das Einzige, das ihr geblieben ist. Erinnerungen an ein Leben, das sie so nie wieder führen wird. Kein Foto, kein Wandbild und kein sonstiges Mitbringsel erinnert an ihr Leben vor der Eskalation des Krieges. „Alles ist weg. Alle Fotos aus meinem vorherigen Leben sind mit der Hardware in der Ukraine verschwunden”, sagt Julia B.
Und sogar ihr russischsprachiger Wikipedia-Text sei verschwunden. Sie wisse nicht warum, vermutet jedoch, dass er gelöscht wurde, weil er in russischer Sprache verfasst war. Es hört sich an, als sei das gesamte Leben ausgelöscht.
Biografien der Einwanderung
Auch Arnsberg und Sundern sind Einwanderungsstädte. Seit Jahrzehnten leben hier Menschen, die aus verschiedensten Gründen aus anderen Ländern hierher gekommen sind.
In einer losen Serie wollen wir verschiedene Biografien vorstellen - von Gastarbeitern, Geflüchteten oder Migranten, die hier aus diversen Motiven eine neue Heimat gefunden haben.
Sie wird es vermissen - ihr einstiges Leben. Doch ihr bleibt nichts anderes übrig als sich diesem neuen Sein anzupassen. Sie beginnt Deutsch zu lernen und besucht seit einigen Wochen einen Integrationskurs - diesen wird sie mit dem Sprachniveau B1 abschließen. Denn Sprache scheint eines ihrer Talente zu sein. Neben Ukrainisch spricht Julia B. perfekt Russisch und Englisch.
Arnsberg: Motivierter Blick in die Zukunft
Nach dem Integrationskurs wünscht sie sich, so schnell wie möglich in einen Job zu finden. „Ich könnte mir vorstellen, in einem international agierenden Unternehmen zu arbeiten“, sagt sie. „Außerdem möchte ich unbedingt wieder schreiben“.
Bislang hatte es ihr der Krieg im Kopf nicht ermöglicht, kreativ zu werden - doch langsam lichten sich die Schatten. Sie schöpft Hoffnung. Zuversicht. Nicht zuletzt, weil sie nun auch endlich ihre eigenen vier Wände in Arnsberg bezieht. Denn eine Flüchtlingsunterkunft ist nicht unbedingt der beste Ort, um Kreativität auszuleben und sich von der Flucht zu erholen.
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Jetzt geht es voran - wenn auch nicht im altbewährten Umfeld und als ukrainische Juristin, aber vielleicht ja in einem neuen Arbeitsfeld und einer weitergehenden Schriftstellerkarriere.